7. Dezember 2015
26

Unvermittelt sitzt ein neues Kind in der Klasse und die Lehrkraft stellt konsterniert fest: „Es sagt nichts! Es versteht nichts!“ In den nächsten Pausen wird die Deutschlehrkraft wiederholt angesprochen, auch von der Klassenleitung: „Kümmerst du dich darum? Kannst du da ein bisschen fördern? Kannst du ihm vielleicht Aufgaben für meinen Unterricht geben?“
Die berechtigte unmittelbare Antwort ist: „Nein!“ Deutschunterricht ist tatsächlich nicht DaZ-Unterricht. Als Deutschlehrkräfte haben wir genauso wenig gelernt, Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache zu unterrichten, wie alle anderen im Kollegium (genau genommen wäre noch am ehesten eine Fremdsprachenlehrkraft eine geeignete Ansprechperson). Zwar erweitern wir im Deutschunterricht aktiv und bewusst den Wortschatz der Kinder, jedoch geht es hier um Aufbauwortschatz. Weitere Lernziele des Deutschunterrichts sind Präzision im Ausdruck und Gebrauch angemessener Register, nicht jedoch eine grundlegende Befähigung zum sprachlichen Handeln.

Auch thematisieren wir zwar Grammatik, jedoch wiederum mit ganz anderen Schwerpunkten, auf ganz andere Weise (weniger situativ eingebettet) und viel ausführlicher als DaZ-Lerner es zunächst brauchen. Bewusstmachung sprachlicher Strukturen geschieht zum Beispiel, damit die Schülerinnen und Schüler die Kommasetzung im Deutschen durch Verständnis der Syntax besser beherrschen, Dativ und Akkusativ im Sprachgebrauch korrekt auseinander halten oder den Konjunktiv bei indirekter Rede benutzen. Die Tatsache hingegen, dass das Prädikat im deutschen Hauptsatz immer das zweite Satzglied ist – eine zentrale Tatsache zu Beginn des DaZ-Unterrichts – wird im Deutschunterricht meist gar nicht erwähnt, weil diese Regel von Muttersprachlern selbstverständlich richtig angewendet wird.

Dennoch müsste die Antwort auf die Fragen der Kollegen und Kolleginnen bezüglich der Sprachförderung eigentlich lauten: „Ja, ich tu mein Bestes – du sicher auch?!“ Denn die neu zugewanderten Kinder im Unterricht und in der Schulgemeinschaft mitzunehmen, ist die gemeinsame Verantwortung aller. Das gilt auch dann, wenn umfangreicher DaZ-Förderunterricht (evtl. sogar eine Sprachlernklasse) eingerichtet wurde und die Kinder nur teilweise den Unterricht ihrer Regelklasse besuchen. Denn der additive Unterricht allein kann und soll die Kinder nicht zu einer erfolgreichen Teilnahme in den Fächern befähigen, er bereitet sie nur darauf vor, indem er sie zum Sprachniveau A2+ führt. Das reicht aber z. B. für das Schreiben einer literarischen Textinterpretation bei weitem nicht aus. Was der Deutschunterricht verlangt, kann letztlich eben auch nur der Deutsch- und nicht der DaZ-Unterricht vermitteln, und das gilt ebenso für alle anderen Fächer.

Wir sind also als Deutschlehrkräfte nicht allein für die DaZ-Förderung zuständig, aber für die fachspezifischen Sprachstrukturen ebenso wie für die Aufnahme des Kindes in die Lerngemeinschaft eben doch mitverantwortlich.
Wie können wir also Kinder mit geringen oder keinen Deutschkenntnissen im Deutschunterricht einbinden, so dass sie selbst sprachlich gefördert werden und zugleich auch die gesamte Lerngruppe von ihrem Mitwirken profitieren kann? Meiner Auffassung nach gibt es drei Phasen, wenn das Kind ohne jegliche Deutschkenntnisse an die Schule kommt:

Sprachlernphase I


In den ca. ersten drei Monaten kann man nur punktuelle Akzente setzen, um zu signalisieren: „Ich sehe dich, ich berücksichtige dich, ich wertschätze dich.“ Es geht darum, dass das Kind sich mit seinen eigenen Qualitäten und seiner individuellen Persönlichkeit wahrgenommen fühlt (und nicht nur als Kind, das „kein Deutsch spricht“, „fremd ist“). Diese Bemühungen, die eher Beziehung aufbauen als Sprache vermitteln, sind nicht zu unterschätzen und für das Kind, das in seiner „Deutschsprachlosigkeit“ weitgehend Beobachter des Schullebens bleibt und nur schwer Beziehungen aufbauen kann, sehr wichtig und motivierend.

Die Akzente dieser Phase liegen vor allem in der Themenwahl. Hier drei Ideen:

  • Sprachvergleiche: Zunächst andere mehrsprachige Kinder der Klasse und dann vielleicht auch dieses Kind geben eine kleine, einsprachige „Einstiegsstunde“ zu und in ihrer Sprache (Begrüßung, Zahlen u. Ä.). Sprachfamilien, Sprachgeschichte und besondere Schwierigkeiten des Deutschen und anderer Sprachen können in diesem Kontext thematisiert werden.
    Auf diese Weise werden sich alle der gesamtsprachlichen Kompetenz dieses Kindes und anderer Mitschülerinnen und Mitschüler bewusst – ebenso wie der großen Herausforderungen, vor denen diese stehen, um sich im deutschsprachigen Umfeld zurecht zu finden.
  • Erweiterung der Kommunikationskompetenz: Ein großer Teil (genaue Prozentzahlen dürfen angezweifelt werden) unserer Kommunikation verläuft nonverbal bzw. über Prosodie. Über pantomimische Szenen oder szenische Variationen einzelner Sätze kann die Klasse für diese Ebene des eigenen und fremden Verhaltens sensibilisiert werden. Hier kann das Kind endlich ohne Einschränkung agieren, sofern es das möchte.
  • Lyrik: Rhythmisches Sprechen ist eine gute Hör- und Ausspracheübung: Wo setzt das Deutsche seine Wort- und Satzakzente? Wie werden einzelne Laute ausgesprochen und wie werden Worte voneinander abgetrennt (‚Auslautverhärtung‘)? Gedichte wie „Wolken“ von Hugo Ball bieten sich besonders an, da ihr Verständnis intuitiv und ohne Sprachkenntnisse entfaltet und szenisch dargestellt werden kann. Wenn man es sensibel gestaltet, können für die ganze Klasse an dieser Stelle unterschiedliche Aussprachen derselben Schriftzeichen in verschiedenen Sprachen sowie unterschiedliche Assoziationen mit Lautfolgen aufgrund der Anklänge an unterschiedliche Wörter thematisiert werden.

In den meist noch langen Zeiten dieser Phase, in denen eine Teilnahme am Unterricht nicht möglich ist, können individuelle Übungen  gemacht werden (z. B. in einer Übungsgrammatik oder auch in zahlreichen Online-Angeboten). Das geht am besten im Deutschunterricht, da wir reflektierter helfen und grammatische Nachfragen beantworten können als viele Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer.

Sprachlernphase II


Wenn man das Kind in dieser ersten Phase ‚vom Haken lässt‘ und sich an seine Stummheit gewöhnt, statt es immer wieder zu fordern und ihm etwas zuzutrauen, verpasst man leicht die zweite Phase (nur in Ausnahmefällen früher als nach drei Monaten). Sobald nämlich die Deutschkenntnisse so entwickelt sind, dass das Sprachhandeln der Lehrkraft und das Geschehen der Stunde im Großen und Ganzen verstanden werden, sollte man sein Verhalten möglichst an zwei Grundprinzipien ausrichten:

  1. Entschleunigung: Nicht nur als sprachliches Vorbild, sondern vor allem, um verstanden zu werden, müssen wir deutlich und langsam sprechen. Hörverstehen ist ein komplexer und schwieriger Vorgang, der zu Beginn, wenn noch einzelne Worte mühevoll encodiert und zu Sinneinheiten zusammengefügt werden müssen, länger dauert.
    Und wie lange können Sie umgekehrt auf eine Antwort warten, ohne nervös zu werden? Probieren Sie es aus. In einer Fremdsprache braucht man mehr Zeit, denn man muss die Antwort nicht nur inhaltlich wissen, sondern sich auch über die Formulierung Gedanken machen.
  2. Transparenz und Berechenbarkeit: Wenn Lernende Klarheit über den Handlungsrahmen und das Handlungsziel haben, können sie ihre ganze Aufmerksamkeit den Inhalten widmen. Am besten ist natürlich (für alle), wenn sowohl Ziele als auch Aufgaben und Inhalte möglichst strukturiert und übersichtlich visualisiert werden. Auch Utensilien wie Sanduhren und Bildkärtchen für Gruppeneinteilungen ebenso wie bestimmte Rituale und Signale verschaffen nonverbal Klarheit und machen die Situation berechenbar.

Die vier in der Fremdsprachendidaktik zentralen sprachlichen Fertigkeiten Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen/Gespräche und Schreiben geben auch im Fachunterricht Orientierung hinsichtlich des Unterrichtsverlaufs und nötiger Hilfen: Kurz gesagt geht die Progression immer von Rezeption zu Produktion und vom Mündlichen zum Schriftlichen.
Ein Unterrichtsverlauf, der dies beachtet, wird als wichtige Hilfestellung für die rezeptiven Tätigkeiten Hören und Lesen zunächst sprachliches und inhaltliches Vorwissen aktivieren und visualisierend strukturieren, Erwartungen an den Text sammeln und aufmerksamkeitslenkende Aufgaben geben.
Im zweiten Schritt wird ein sprachlich zu bewältigender Input zusammen mit Aufgaben und eventuellen Verständnishilfen (Annotationen, Absätze mit Überschriften, markierte Schlüsselwörter, u. Ä.) gegeben. Es finden sich oft sprachlich einfache Texte, die kognitiv trotzdem so anspruchsvoll sind, dass sie teilweise sogar von der ganzen Klasse genutzt werden können, wie z. B. die Kurzgeschichte „Schlittenfahren“ von Helga M. Novak (1968) ungefähr für Klasse 8 geeignet ist. Es können aber auch Brückentexte (einfache Versionen) erstellt werden oder Texte annotiert und übersichtlich gestaltet präsentiert werden.
Anschließend ist die Fertigkeit des Sprechens an der Reihe und braucht viel Raum: Möglichst offene Aufgaben bieten die Möglichkeit, einen individuellen und zum Sprechen motivierenden Zugang zum Thema in Kleingruppen zu finden, bei dem auch die eingeführten Sprachmittel angewendet werden.
Am Ende sollte immer eine Präsentation mit individueller Verschriftlichung auch der erworbenen sprachlichen Mittel  stehen. Persönliche Briefe, Inhaltsangaben und Beschreibungen sind schon früh möglich, nach Einführung des Präteritums auch Berichte und Erzählungen.

Hat die Klasse bereits Lesestrategien kennen gelernt? Hat sie Wörterbucharbeit geübt? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das Gelernte noch einmal bewusst zu machen und zu üben. Denn Verstehens- und Lernstrategien sind für die DaZ-Lernenden besonders wichtig.
Für die immer noch existierenden Phasen, in denen eine Mitarbeit nicht möglich ist, können Lektüren für DaF-Lernende im passenden GER-Niveau (A1-A2) bereit gehalten werden. In den Lektüren sind häufig Arbeitsaufträge zu den einzelnen Kapiteln enthalten. Ideal wäre, wenn auch eine Hör-CD dabei ist.

Sprachlernphase III


In der dritten Phase (meist nach mindestens zwei Jahren) fallen die DaZ-Lernenden in der Lerngruppe kaum noch auf. Sprachliche Schwächen werden am ehesten noch im Schriftlichen offenbar. Der Fachunterricht bleibt generell „sprachbildend“ bzw. „sprachsensibel“, ohne dass den zugewanderten Kindern noch besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Unterricht formuliert in allen Fächern für die gesamte Lerngruppe passend zu den kompetenzorientierten fachlichen immer auch sprachliche Lernziele, auch um ungleiche familiäre Voraussetzungen auszugleichen.
Im Deutschunterricht sollte die sprachliche und kulturelle Vielfalt in der Gruppe bei Gelegenheit (z. B. in Projekten) immer aufgegriffen und auf diese Weise wertgeschätzt werden. Interkulturelle Kommunikationskompetenz sollte gefördert werden, z. B. indem Kommunikationsregeln verschiedener Kulturen thematisiert werden.
Wenn die Schule dies alles für die zugewanderten und für alle anderen Kinder geleistet hat, dann ist es Zeit, sich gegenseitig ordentlich auf die Schultern zu klopfen – natürlich bei einem mehrsprachigen und interkulturellen Fest, das einer Projektwoche zum Thema folgt!

Fotos: Dr. Ina Baumann, Reiner Pfisterer

Danke!
26 Personen haben sich für diesen Beitrag bedankt.
Klicke aufs Herz und sag Danke.