9. Januar 2023
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Wenn wir mit Annette von Droste-Hülshoffs berühmtem Knaben ins Moor gehen, finden wir dort nicht nur die bekannten westfälischen Schauer-Figuren, sondern entdecken auch die Droste neu als engagierte Umweltschützerin. Unser Autor Klemens Büsch beleuchtet diese Thematik im Beitrag und gibt in diesem Kontext auch unterschiedliche Ansätze für die Bearbeitung (Deutsch-)Unterricht.

Das Moor als Ort und Metapher

Bis in die Details beschreibt Annette von Droste-Hülshoff in ihrer Ballade Der Knabe im Moor diesen schaurigen Ort: Von Ranken ist die Rede, vom Geröhre und von schwimmendem Moos unter den Füßen. Das sind Naturerscheinungen, mit denen eure Schülerinnen und Schüler nicht vertraut sind – weder mit den Wörtern noch mit den Naturphänomenen. Ihnen geht es mit der Ballade von 1842 wie dem Knaben, von dem hier erzählt wird, – sie betreten ungesichertes Gelände. Ihnen erscheint die Bedeutung mancher Wörter ähnlich schemenhaft wie dem Knaben die Silhouetten des gruseligen Moor-Personals.

Schritt für Schritt ins Moor

Um den Interpretationsweg freizuschaffen von Bedeutungsmorast, habe ich meinen Schülerinnen und Schülern „Lesekarten“ gemacht. Die Karten sollen den Leseprozess verlangsamen und Hilfen geben (vgl. dazu den Ansatz des „statarischen Lesens“ von Elisabeth Paefgen (1998)).

Vom Ufer starret Gestumpf hervor (V. 17)

Wie verstehst du den Vers beim ersten Lesen? Was verstehst du noch nicht? Welche Bedeutung erahnst du nur?

Zusatzkarte zu Vers 17

Worterklärungen

hervorstarren            =          aus etw. emporstehen, in die Höhe ragen
starren                        =          unbeweglich, gespannt blicken
Gestumpf                   =          mehrere (tote) Stümpfe von gefällten Bäumen oder                                                     Sträuchern

Fragen zum Weiterdenken

Heranzoomen

Was bedeuten die einzelnen Wörter? Hat das Wort eine oder mehrere Bedeutungen? Welche Bedeutung hat es deiner Meinung nach in diesem Vers? Ist die Bedeutung des Wortes wortwörtlich zu verstehen oder handelt es sich um ein sprachliches Bild?

Herauszoomen

In welcher textlichen Umgebung steht das Wort/der ganze Vers? Ergibt das Wort im Zusammenhang mit den anderen Wörtern des Verses für dich Sinn? Steht der Vers inhaltlich in Zusammenhang mit dem letzten oder dem folgenden?

Was sieht der Junge?

Stelle dir vor, du stündest an der Stelle, an der der Junge gerade steht. Was ist zu sehen? Was ist neben, vor dir? Wie weit ist es weg?

Für die genauen Worterklärungen habe ich das Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm und das Meyersche Wörterbuch genutzt, die online zugänglich sind.

Wörterkrimi im Internet

Dabei stieß ich auch auf das Wort „Heiderauch“. Ich dachte zuerst, dass es so etwas wie Nebel bedeuten kann – obwohl man ja schon als Kind lernt, dass Nebel und Dampf aus Wasser sind, Rauch aber beim Verbrennen entsteht. Also schlug ich nach und tatsächlich verzeichnet das Grimmsche Wörterbuch unter dem Stichwort „Rauch“ unter anderem die Bedeutung „rauch, dem rauche ähnlicher dunst, in verschiedener abstufung des sinnes. nebel, wie er von der erde emporsteigt“. Das passte. Aber unter dem Stichwort „Heiderauch“ heißt es im Meyerschen Wörterbuch: „der in Nordwestdeutschland auftretende H. meist als Folge des Moorbrennens“. Hatte Annette von Droste-Hülshoff hier also Nebeldunst gemeint? Oder ließ sie ihren Knaben tatsächlich durch Rauch rennen, der beim sogenannten Moorbrennen entsteht? Meine Suche ging weiter.

Die Droste als frühe Klimaaktivistin

Ich las mich noch einmal in die Biografie von Droste-Hülshoff ein: Man weiß, dass sie ein sehr inniges Verhältnis zur Natur hatte, zu Tieren, zu Pflanzen, ja selbst zum Gestein. Dies rührte vor allem daher, dass sie schon als Kind den sogenannten Bertuch, ein beliebtes bebildertes populärwissenschaftliches Werk zur Flora und Fauna, kannte sowie später Wanderungen durch die westfälische Landschaft liebte und im Rüschhaus Wand an Wand mit dem Vieh lebte.
Aus dieser Liebe zur Natur erwuchs bei ihr aber kein Naturverständnis im Sinne der Romantik mit der „Vorstellung [von] einer harmonischen Übereinstimmung von >Natur<, Mensch und Welt“ (Detering 2020).

Büste von Annette von Droste-Hülshoff

Bei aller Freude an, mit und in der Natur entspricht ein solches Verhältnis angesichts des gierigen Umgangs des Menschen mit der Natur aus der Perspektive der Droste in ihrer Zeit schon nicht mehr der Realität.

Im Gegenteil – der Raubbau des Menschen an der Natur taucht in ihrem Werk immer wieder auf: In ihrem Prosahauptwerk, der berühmten Novelle Die Judenbuche, macht sie ihn zum zentralen Motiv. Und in ihrem Gedicht Die ächzende Kreatur (1846) prangert sie diese moralische Verfehlung des Menschen an:

[…]

Das ist die Schuld des Mordes an
Der Erde Lieblichkeit und Huld,
An des Getieres dumpfem Bann
Ist es die tiefe, schwere Schuld.

[…]

Damit gehört die Droste zu den ersten literarischen Stimmen überhaupt, die die wirtschaftliche Ausbeutung der Natur anprangern.

Meine Recherche hat also gezeigt, dass Droste-Hülshoff wahrscheinlich mit dem Wort „Heiderauch“ tatsächlich auf die Verbrennung des Moores hinweisen wollte. Warum aber wurde das Moor verbrannt? Dass man es trockenlegt und den Torf nutzt, wusste ich – aber verbrennen?

Das Moor als Kurzzeitacker

Ich wurde an verschiedenen Stellen des Internets fündig. Will man aber diesen Wörterkrimi mit seinen Schülerinnen und Schülern nachvollziehen, dann eignen sich besonders folgende Quellen:

Moorgewässer

Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass man zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann, im großen Stil Moorflächen abzubrennen, um auf den entstandenen Ascheflächen für (lediglich!) zwei oder drei Ernten Buchweizen anzubauen. Daneben wurden die Moore auch entwässert und der Torf abgebaut – all das bis heute mit katastrophalen Folgen für die Biotope und das Klima. Denn 30 Prozent des erdgebundenen Kohlenstoffs werden von Mooren gespeichert, und das, obwohl diese nur drei Prozent der globalen Landfläche bedecken.

Von der Ballade zu BNE-Lernwegen

Was für eine Entdeckung! Die vermeintlich biedere Balladenschreiberin aus dem Westfälischen ist nicht nur eine erstaunliche Frauenfigur am Anfang des 19. Jahrhunderts, weil sie sich als Schriftstellerin mit großem Beharrungsvermögen in der Männerwelt der Literatur durchgesetzt hat, sondern sie ist auch eine Mahnerin für das Recht der Natur.

Hiervon ausgehend lässt sich auf verschiedenste Weise je nach Jahrgangsstufe und Anspruchsniveau auch fächerverbindend (Biologie, Geschichte, Erdkunde) weiterarbeiten:

  • Ein Team gestaltet für die Schulbibliothek eine Schautafel zu Annette von Droste-Hülshoff als frühe Umweltschützerin.
  • Eine Kampagne zur Aufklärung über die Problematik torfhaltiger Gartenerde wird konzipiert, gestaltet, durchgeführt und ausgewertet. Das kann im überschaubaren Rahmen der Klasse geschehen oder für die gesamte Schule.
  • Recherchen und Interviews mit Mitarbeitenden in Fachhandlungen, Gärtnereien u. a. und eine Recherche im Gartenschuppen der Eltern oder auf dem Balkon werden zu einer Reportage verarbeitet oder für die schuleigenen Auftritte im Netz, bei Facebook oder Instagram, etc. aufbereitet.
  • Im Umfeld fast jeder Stadt gab oder gibt es ein Moor. Recherchen im Stadtarchiv und der Stadtbibliothek fördern so einiges zu Tage: die Geschichte des Moors und seines Verschwindens, die Bedeutung noch vorhandener Flurnamen, der Inhalt von Legenden, die Kunde von Räuberverstecken, Moorleichen usw., Werke von Heimatschriftstellerinnen und -schriftstellern etc. An einem literarischen Abend im örtlichen Heimatmuseum wird daran erinnert.
  • Eine Recherche zeigt auf: Was tut die Stadt als Ausgleich zum verschwundenen Moor? Gibt es ein Konzept zur Schwammstadt? Welche Orte bzw. Einrichtungen übernehmen heute die Filter- und Wasserspeicherfunktion eines Moores? Eine Mail an das örtliche Kinderparlament oder an den Rat der Stadt wird geschrieben.

Literatur

Detering, Heinrich: Holzfrevel und Heilsverlust: Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Wallstein Verlag 2020
Ein besonderer Blick auf Leben und Werk der Dichterin.

Droste Museum: burg-huelshoff.de
Ein Museum zum Mitmachen und zum Entdecken (auch online): modern, digital, kreativ, überraschend, motivierend, verbindend!

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