29. September 2021
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Ein Text für die Grundschule?

Googelt man den Titel von Goethes Ballade Der Erlkönig, findet man schnell viele stolze Dokumentationen von Unterrichtsarbeit beginnend in Jahrgangsstufe 3 (!). Auch in Elternforen wird darüber berichtet, meistens ebenso begeistert. Wenn vereinzelte Eltern etwas befremdet die Frage stellen, ob denn die Thematik („schon etwas ernst“) in dem Alter nicht zu früh kommt, gehen die Antworten dann nicht selten in folgende Richtung:

„ich finde das für die 4. Klasse schon ein bisschen hart, nicht wegen der Thematik, sondern wegen des Aufbaus“

„Solange die Kinder kein Problem damit haben und Albträume entwickeln, würde ich das einfach mal ganz locker und erfreut auf mich zukommen lassen.“

„Den „Erlkönig“ kann man super rappen. Und genau das ist auch wichtig für die Kinder – dass sie den Sprachrhythmus begreifen.“

Man könnte ergänzen: Man kann ihn super im szenischen Spiel umsetzen, man kann ihn super vertonen, man kann ihn super in Jugendsprache umschreiben. Die Begeisterung der Lehrkraft dürfte schnell auf die Kinder überspringen: „Leute, in den nächsten Stunden beschäftigen wir uns mit dem Erlkönig von Goethe. Da stirbt ein kleines Kind in den Armen seines Vaters, der es zu retten versucht. Das ist ein super Text, den können wir wunderbar gestalten. Ihr habt bestimmt viel Spaß!“

Ein Text für die Unterstufe?

Natürlich ist Goethes Erlkönig ein „super Text“. Zu den balladentypischen Vorteilen, die ihn für den Unterricht so attraktiv machen, kommen im Falle des Erlkönigs noch die zur Entschlüsselung und Darstellung reizende Verteilung der Redeanteile der vier Instanzen (Erzähler, Vater, Sohn, Erlkönig) und die magisch-mystische Darstellung der vom Kind imaginierten Sphäre des Erlkönigs sowie das raffinierte Reimschema. Übersehen wird dabei schnell, dass der Text inhaltlich keineswegs banal ist. Dafür, ihn eher als Text für die Mittelstufe zu sehen, gibt es mindestens zwei Gründe:

Erstens: Dass die Darstellung der magischen Welt literaturgeschichtlich als Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung (die der Vater repräsentiert) gewertet werden kann, hat für Grundschüler keine Relevanz – und für Unterstufenschüler auch nicht. Aber worum geht es dann, wenn man über den Text spricht? Die zahlreichen Möglichkeiten, sich produktiv-gestaltend mit dem Text zu befassen, ersetzen ja nicht die Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Juliane Köster hat in ihrem Aufsatz „Probleme der Balladendidaktik“[1] aber genau das als zentrales Problem angesprochen: Dass man – um alle Schwierigkeiten und Fallstricke zu vermeiden, z. B. den Text für ideologische Erziehungsziele zu instrumentalisieren – den Umgang mit Balladen auf die Betrachtung formaler Eigenschaften beschränkt. Ihrer Ansicht nach wird ein „Rückzug auf resümierende und formalistische Zugriffe dem Verstehensanspruch der Texte nicht gerecht“[2]. Einem solchen Rückzug läge zudem das Missverständnis zugrunde, produktionsorientierte Herangehensweisen seien aus sich heraus gerechtfertigt. Sie sind es aber nur, insofern sie etwas über den Text zu Tage fördern, was zu seinem Verständnis beiträgt, indem sie also eine Deutung ermöglichen. Diesen weiterführenden Schritt nicht mehr vorzusehen, vermittelt außerdem die falsche Vorstellung, um so etwas wie eine Deutung müsse es bei der Auseinandersetzung mit lyrischen Texten gar nicht gehen. Juliane Köster führt sehr überzeugend aus, dass ganz im Gegenteil die epochenspezifischen Vorstellungen, die sich in den Texten zeigen, eine „Folie für aktuelle Modellierungen ähnlicher Konflikte und entsprechende Lösungsangebote bieten.“[3]

Zweitens: Auch wenn man den Text so lesen kann, dass sich das Kind „einen Sinn für die magischen Kräfte der Welt“[4] (Erich Trunz) bewahrt, geht es doch – auf der Ebene der dargestellten Realität des Gedichts – um ein tragisches Ereignis. Dem Vater gelingt es trotz großer Anstrengungen nicht, sein Kind zu retten. Es stirbt in seinen Armen. Und es geht – ungeachtet der Frage nach der „Realität“ der Visionen des Kindes (und der Frage, ob der Vater den Erlkönig aufgrund seiner zu rationalen Denkweise nicht sehen will oder sein Kind nur beruhigen möchte) – um die Angst des Kindes angesichts der sich steigernden Zudringlichkeit des Erlkönigs. Diese Zudringlichkeit selbst ist, wie Robert Stockhammer nachweist, alles andere als harmlos:

„Eindeutig ist nur, dass die erotischen Konnotationen zunehmen, von der vielleicht noch ganz unschuldigen Versprechung »schöner Spiele« (10) über die ambivalente Kombination eines nächtlichen Reigens mit Wiegebewegungen (19 f.) bis hin zur unverblümten Anmache und Drohung des Kinderschänders (25 f.). »Faßt« der Erlkönig schließlich das Kind »an« (27), das der Vater bis dahin sicher »faßt« (4), so nimmt er als perverses Komplement des Vaters dessen Stelle ein. Nicht umsonst erscheint der Vater, dem es »grauset« und der den Hof nur »mit Müh’ und Not« erreicht, selbst gefährdet.“[5]

Sollen das die Dritt-, Viert- oder Fünftklässler im szenischen Spiel darstellen? „Angst ist einsam“[6] hat Golo Mann in einem Text über den Erlkönig gesagt. Natürlich kann man Angst auch in der Gruppe spielen oder rappen. Die Frage ist, ob man das Gedicht dadurch besser versteht.

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[1] Juliane Köster, „Probleme der Balladendidaktik zwischen Ideologie und Ideologieverzicht“, in: Entfaltung innerer Kräfte: Festschrift für Kaspar H. Spinner anlässlich seines 60. Geburtstages / Christine Köppert, Klaus Metzger (Hrsg.). – Velber: Friedrich, 2001. – S. 175-185

[2] a.a.O. S. 175

[3] a.a.O. S. 181

[4] Goethes Werke, hrsg. von Erich Trunz, München: C. H. Beck, 1989 (14. Auflage), Bd. 1, S. 564

[5] Robert Stockhammer: Johann Wolfgang Goethe: Erlkönig: Dichter · Vater · Kind, in: Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart: Reclam, 1998, S. 104

[6] Golo Mann, Die Urballade, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), Frankfurter Anthologie, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1997 (3. Auflage), Bd. 10, S. 54

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