18. April 2024
34

Kleists Hoffnung auf den sprachlichen Austausch ist gleichzeitig eine Warnung vor dessen Missbrauch. Oder: Was uns der Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ für das Verständnis des Lustspiels „Der zerbrochne Krug“ und unser heutiges gesellschaftliches Miteinander sagen kann.

Die „Verfertigung der Gedanken“ in „Der zerbrochne Krug“

„Ich glaube, dass mancher Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wusste, was er sagen würde.“ Dies schreibt Heinrich von Kleist in seiner Abhandlung „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Um den Gehalt dieses Satzes zu verstehen, braucht man sich nur den Dorfrichter Adam in Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ vorzustellen, wie dieser mit dem Rücken an der Wand stehend mit immer abenteuerlicher wirkenden sprachlichen Tricks und Wendungen versucht, sich aus seiner Verantwortung heraus zu mogeln. Adam ist kreativ, er versteht aus der Not eine Tugend zu machen, er vermag mit Herzblut sich der ihn immer strikter umklammernden Realitätslage so lange zu entwinden, bis sein dreist errichtetes Lügengebäude am Ende des Stücks doch zusammenbricht.

Kommunikation und Verantwortung

Wie das Zusammenwirken von Sprechen und Denken gelingen kann, beschreibt Kleist in seiner pragmatischen Anweisung zum Kommunizieren sehr präzise. Gerade heute in unserer von medialen Dissonanzen geprägten Umbruchszeit lohnt es sich, seine Argumentation genau zu verfolgen. Es bedarf der Auseinandersetzung mit einer herausfordernden Umwelt, was heißt, mit einer sich permanent verändernden Realität. Es braucht Menschen, die in dieser Transformationssituation verantwortungsvoll agieren. Und es bedarf eines Mediums, in Kleists Fall der Sprache, um Veränderungs- und Entscheidungsprozesse transparent zu kommunizieren.

Adam bedient sich mutig und unerschrocken der Sprache, allerdings ausschließlich für seine Zwecke, nämlich sich der Verantwortung für sein Handeln zu entziehen. Er ist dazu in der Lage, weil er, wie Kleist in seiner Abhandlung formuliert, die „nötige Gedankenfülle“ besitzt und sie „aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen“ kann. In anderen Worten: Er vermag scheinbar jedes Mal auf die ihn immer neu fordernde Wirklichkeit eine (Teil)Antwort zu finden. So entgeht er trotz aller Widrigkeiten durch hellwache Kommunikation mit seinen Kontrahenten einer für ihn prekären Lage und schafft vermeintliche neue Wahrheiten.

Das Ende des Prozesses, an dem Adam sich als Schurke selbst entlarvt hat und mit seiner Flucht seine Schuld eingesteht, scheint zunächst dafür zu sprechen, dass die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis trotz Adams manipulativen, missbräuchlichen, modern ausgedrückt „gefakten“, Umgangs mit der Sprache erfolgreich war. Das staunende Publikum, das von Anfang an um die Scharlatanerie Adams weiß, könnte sich zufrieden zurücklehnen, wenn da nicht das Verhalten der Rechtsinstanz in Gestalt des Gerichtsrats Walter Zweifel säen würde, ob nun wirklich alle Probleme gelöst sind. Dem auf ein gutes Ende eingestellten Lustspielpublikum müsste eigentlich das Lachen im Halse stecken bleiben, wenn Walter (im „Variant“, dem nachgestellten Schluss) die von Adam missbrauchte Eve um einen Kuss bittet und ihr Münzen anbietet, deren Wert zweifelhaft ist. Offenbar hat das Adam’sche „Framing“ bereits nachhaltige Wirkung im institutionellen Rechtsgefüge hinterlassen.

„Der zerbrochne Krug“ – Ein skeptischer Blick auf die Sprache

Die Abhandlung „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ formuliert eine Grundüberzeugung Kleists: Einer instabilen Welt kann nur durch das Miteinander von kreativ, offen und redlich miteinander kommunizierenden Individuen und deren Vertrauen in die konstruktive Kraft der Sprache begegnet werden, um so zu differenzierter Erkenntnis und zu akzeptablen Lösungsansätzen zu kommen. Das wird durch sein Lustspiel relativiert. Die Figur des Dorfrichters Adam demonstriert, wie dieser konstruktive Kommunikationsansatz durch die Missachtung des respektvollen Austausches und die Betonung von Eigeninteresse die gemeinsame Suche nach Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. Kleists persönliche Verzweiflung am Leben und der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ wird in einer Komödie, die in der deutschen Literaturgeschichte oftmals als besonders gelungen angesehen wurde, erschreckend manifest. Nicht ohne Grund lehnte Goethe als überzeugter Vertreter des klassischen Menschenbilds Kleists Lustspiel ab. Es könnten sogar zurecht Zweifel angemeldet werden, ob es sich bei Kleists Drama überhaupt um ein Lustspiel im gattungstypologischen Sinn handelt. Zuzutrauen wäre ihm jedoch die wörtlich gemeinte Verwendung des Begriffs mit Blick auf Eve als Sexualobjekt, zumal dieses Motiv nicht gerade selten in seinem Gesamtwerk vorkommt.

Was jedoch unsere Gegenwart angeht, die vielfach von Vereinzelung, Misstrauen bis hin zu Respektlosigkeit und gegenseitiger Verachtung, lügenhafter Kommunikation und damit einhergehender Verrohung der Sprache sowie Zweifeln am vernünftigen und verlässlichen Umgang miteinander geprägt ist: Ihr kann man mit dem Kleist’schen Lustspiel in Verbindung mit einer erörternden Analyse seiner Abhandlung über die „Verfertigung der Gedanken beim Reden“ keinen besseren Spiegel vorhalten.

Autor: Dr. Hans R. Spielmann

Deutsch kompetent Kurslektüren
Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug

Danke!
34 Personen haben sich für diesen Beitrag bedankt.
Klicke aufs Herz und sag Danke.