15. Juli 2021
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Der zerbrochene Krug, Emilia Galotti oder gar Faust – Werke mit sieben Siegeln in der heutigen Zeit? Unser Autor Stefan Schäfer plädiert für ein Recht auf Klassiker und zeigt Wege, wie die Klassiker-Lektüre gelingen kann.

Die Zeit, die man für Literatur im Unterricht aufwenden kann, wurde in der Tendenz über die Jahrzehnte in dem Maße geringer, in dem die Anforderungen an das Fach Deutsch (etwa durch informationstechnische Grundbildung, Berufs- und Lebensorientierung und zahlreiche weitere Anforderungen im Detail) gestiegen sind. Gleichzeitig wächst die zeitliche, sprachliche und inhaltliche Distanz zu den sogenannten Klassikern, was den Vermittlungsaufwand erhöht. Doch hieraus den Schluss zu ziehen, auf die Lektüre der Klassiker zu verzichten, übersieht deren Bedeutung.

Klassische Stoffe als Muster für aktuelle Lektüren

Literatur braucht die Verbindlichkeit durch die Klassiker und deren Stoffe. Wenn etwa Autoren wie Daniel Kehlmann oder Salman Rushdie ihre (großartigen) Romane einfach „Tyll“ (2017) bzw. „Quichotte“ (2019) betiteln, dann setzen sie ja etwas voraus. Etwas, das nur durch einen Grundstock an klassischer Literaturbildung auch eingelöst werden kann. Und das hat eine lange Tradition: Bereits die Besucher antiker Theater wussten in der Regel vorher, wie ihre „Antigone“ oder ihr „Ödipus“ ausgeht.

Und auch stoffunabhängig täusche man sich nicht über die moderne Gegenwartsliteratur: Es gab in den vergangenen Jahren vermehrt Vorgaben für das Abitur, die die Lektüre neuerer Romane der Postmoderne vorsahen. Christian Krachts „Faserland“ (1995) etwa oder Peter Stamms „Agnes“ (1998); ein ganz aktuelles Beispiel aus Niedersachsen ist Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ (2018). Der Plot der genannten Bücher ist wenig aufregend. Die Romane gewinnen ihren Wert und Reiz vielmehr vor allem durch die Intertextualität und das Spiel mit literarischen Mustern. Auch hier geht es also ohne den erwähnten Grundstock an klassischer Literaturbildung kaum.

Ein Recht auf Klassiker

Hinzu kommt unsere Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen: Wenn ein Klassiker vielleicht 200 oder, wie bei Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg, sogar 800 Jahre überlebt hat, dann sollten wir nicht diejenigen sein, die ihn für obsolet und für nicht mehr unterrichtbar erklären. Die Klassiker gehören einfach zum Fundament unserer Kultur, und alle Schülerinnen und Schüler haben das Recht, so gut wie irgend möglich damit vertraut gemacht zu werden.

Um recht verstanden zu werden: Die Anforderungen an die Schülerschaft sind zahlreich. Und selbstverständlich haben sie auch das Recht darauf, andere, lebenspraktische und berufsrelevante Fähigkeiten zu erlernen. Aber kulturelle Bildung ist mehr als nur ein Extra. Jedes Kind sollte einmal eine Ballade auswendiglernen und sich einmal mit einem klassischen Drama oder wenigstens mit seinem Stoff beschäftigen dürfen. Das Modalverb „dürfen“ ist dabei mit Bedacht gewählt. Der Verzicht auf Klassiker käme einer Bildungseinbuße bei den Schülerinnen und Schülern gleich.

Vermittlung mit Augenmaß

Um trotz der gestiegenen, zahlreichen Anforderungen Klassiker behandeln zu können, könnten in der Praxis zunächst Texte gesammelt werden, bei denen der grundsätzliche Erarbeitungsaufwand in einem vernünftigen Verhältnis zur künstlerischen Bedeutung und der kulturellen Reichweite des Werkes steht. „Kabale und Liebe“, für dessen ersten Szene man länger in den Wörterklärungen als im Dramentext selbst liest, lässt man dann vielleicht und greift doch lieber zum „Wilhelm Tell“.

Zu bedenken ist sodann, dass man auch nicht immer alles (oder doch das meiste) lesen bzw. behandeln muss. Bevor man den „Faust“ überhaupt nicht anpackt, kürzt man ihn lieber um die Gelehrtentragödie. Manchmal wird man den Stoff auch nur über eine Verfilmung, eine Graphic Novel oder eine erzählerische Zusammenfassung vermitteln und lediglich wenige ausgewählte Szenen des Werkes lesen, um den Schülerinnen und Schülern einen Eindruck von der Dichtung selbst zu geben.

Mut zur Kreativität

Überdies können verstärkt kreative Zugänge für die Erarbeitung sowohl des Stoffs als auch der Werke genutzt werden. Neben der szenischen Umsetzung (szenisches Lesen und Spiel sowie Verfilmung von Szenenausschnitten) habe ich selbst gute Erfahrungen damit gemacht, die Schülerinnen und Schüler (Dramen)Szenen ins Alltagsdeutsche übertragen zu lassen: Was wollen Maria und Elisabeth, Faust und Margarethe oder Effi und ihre Mutter in der jeweiligen Szene eigentlich erreichen und wie würde man das heute verbal tun? Möglich sind natürlich auch Weiterdichtungen oder eigene kleine Stoffbearbeitungen sowie -transformationen: Wie würde sich die Grundidee des Dramas in einer deutschen Stadt heute darstellen lassen? Wie müssten dann die Figuren aussehen?

Vor allem aber kann man den Schülerinnen und Schülern mehr zutrauen, als man denkt, wenn diese gleichzeitig merken, dass man selbst mehr Aufwand betreibt, als sie erwartet haben. Wenn sie also merken, dass einem selbst etwa der „Parzival“ so wichtig ist, dass man mit spannenden Erzählungen, Bild- und Filmmaterial versucht, die Neugier auf den Text zu wecken, werden sie dann auch bei der Lektüre wichtiger Episoden mit innerer Anteilnahme folgen.

Für die Unterrichtspraxis bedeutet das alles Mehraufwand. Man wird für jede Klasse neu überlegen und prüfen müssen, was man selbst leisten kann und was man den Schülerinnen und Schülern unbedingt auch dann mitgeben will, wenn sie selbst es vielleicht (noch) gar nicht zu schätzen wissen. Und man wird es, vielleicht immer wieder aufs Neue, vorbereiten müssen. Deshalb wird es auch Grenzen geben; Lehrkräfte arbeiten, es wurde oben bereits gesagt, „so gut wie irgend möglich“. Die Klassiker sollte man dabei aber immer zumindest im Blick haben, für sie gibt es nämlich keinen Ersatz.

Welche Klassiker im Literaturkanon liegen Ihnen am Herzen? Wie vermitteln Sie im Lehrplan vorgegebene klassische Stoffe? Erzählen Sie uns gern davon in den Kommentaren.

Ihr kostenloser Download

Aufgabenkomplex zum Leseverstehen eines szenischen Texts am Beispiel einer Szene aus „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing. Auszug aus dem Arbeitsheft Deutsch Training plus – Lese- und Hörverstehen Klasse 7/8:


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