12. November 2020
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Ist das Auswendiglernen nicht ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen kulturelles Wissen mangels Alternativen mühsam memorisiert werden musste bzw. in denen der erworbene „Besitz“ an kanonischen Texten ebenso zur literarischen Bildung gehörte wie der Zitatenschatz „geflügelter Worte“? Ist es nicht heute eher wichtiger, aus der ständig zunehmenden Fülle an digital zur Verfügung stehenden Informationen auszuwählen, gespeichertes Wissen gezielt abzurufen und Texte rasch geistig zu verarbeiten? Unser Autor Dr. Maximilian Nutz erklärt jedoch den mündlichen Gedichtvortrag für unverzichtbar und stellt ein passendes Arbeitsblatt zur Verfügung.

von Dr. Maximilian Nutz

Intensivierung von Spracherfahrung und Sprachbewusstsein

Lange Zeit war im Deutsch- und Literaturunterrichts das Vortragen von Gedichten eng verbunden mit dem Auswendiglernen der Texte, und auch heute noch fordern Lehrpläne als Kompetenz das freie Vortragen von Gedichten.

Auswendiglernen ist nicht nur eine alte Kulturtechnik, die durch die modernen Zugriffsmöglichkeiten auf Texte und Wissen überflüssig geworden ist, sondern es erhöht auch Vertrautheit mit einem Text, es zwingt zur bewussten Konzentration auf jedes einzelne Wort. Vor allem Gedichte ermöglichen sinnliche Erfahrungen von Klang und Rhythmus, von der bildlichen Kraft der Wörter, von der Atmosphäre einer Situation oder dem Gestus des lyrischen Ichs. Im Unterschied zur Alltagskommunikation fördern sie bei ihren Leserinnen und Lesern eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Hinhorchens, Sich-Vorstellens, aber auch des analytisch geschärften Wahrnehmens von Strukturen. Sie sind damit ein unverzichtbares Korrektiv für ein Sprachbewusstsein einer Gesellschaft, das Texte zunehmend auf ihren Informationswert reduziert.

Wirkungsmöglichkeiten von Stimme, Mimik und Gestik

Beim Vortragen von Texten können Dimensionen von Sprache erfahren werden, die erst im Medium der Mündlichkeit deutlich werden:

  • Klanggestalt der Stimme: hellere oder dunklere Töne, Tonhöhe, Lautstärke, …
  • Sprechtempo und Sprechrhythmus: Pausen, Verlangsamung vs. Beschleunigung, Betonung sinntragender Wörter, …
  • Sprechgestus und Sprechhaltung:  appellativ, reflektierend, …
  • Mimik und Gestus des Sprechers

Vortragsweisen und -stile im Wandel

Wie Gedichte vorgetragen werden sollen, hängt nicht nur von unterschiedlichen poetologischen Auffassungen ab, sondern auch von zeitbedingten Sprechweisen und Sprechstilen.

Das Vortragen von Gedichten gehörte zu den Ritualen im elitären „Kreis“ von „Jüngern“, den der Dichter Stefan George seit der Jahrhundertwende um sich scharte. Entscheidend war für George die ästhetische Wirkung, die durch Klang und Rhythmus hervorgebracht wurde, unter Verzicht auf Mittel der Sprechgestaltung, wie sie vor allem auf der Bühne verwendet wurden. Brecht sah in Gedichten dagegen die Möglichkeit, Denkprozesse in Gang zu setzen und damit politisch-gesellschaftliche Verhältnisse bewusst zu machen. Leser sollten nicht durch ästhetische Mittel „eingelullt“ werden, sondern die „Haltung“ und den „Gestus“ erkennen, die in der Thematik, der gedanklich-semantischen Struktur und in Gestaltungselementen der Lyrik zum Ausdruck kamen.

Das eigene Sinnverständnis umsetzen

Vortragweisen professioneller Sprecher, die heute über das Internet leicht zugänglich sind, zeigen die große Bandbreite bei der produktiven Umsetzung der schriftlichen Gestalt von Gedichten. So sollte auch der Gedichtvortrag von Schülerinnen und Schülern nicht primär danach beurteilt werden, wie weit es gelingt, analytisch erschlossene Textmerkmale von der Situation über die Sprechhaltung des lyrischen Ich bis zu den sinnlichen Wahrnehmungen von Klang und Rhythmus zum Ausdruck zu bringen, sondern wie weit es gelingt, das eigene Sinnverständnis und Formerlebnis produktiv zu gestalten.

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