9. Februar 2023
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In der Oberstufe mehrerer Bundesländer wird in einem eigenen Schulfach das wissenschaftliche Arbeiten eingeübt. Ob damit das Ziel der Studierfähigkeit wirklich erreicht wird, bleibt offen.

Immer mehr Abiturienten studieren. Um sie auf das wissenschaftliche Arbeiten vorzubereiten, wurde in mehreren Bundesländern ein eigenes Fach entwickelt. In Bayern ist dies das wissenschaftspropädeutische Seminar. Für die Jahrgänge, die in Bayern aktuell noch nach acht Jahren Gymnasium regulär Abitur machen – die Rückkehr zu G9 erfolgte im Schuljahr 18/19 – wird es ab Beginn der 11. Klasse drei Halbjahre lang jeweils zwei Stunden wöchentlich unterrichtet.
Die Absicht dahinter wird vom Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung für die gymnasiale Oberstufe in Bayern so formuliert: „Ein zentrales Ziel des Gymnasiums ist eine fachunabhängige Studierfähigkeit. Im wissenschaftspropädeutischen Seminar (W-Seminar) sollen Schülerinnen und Schüler fachübergreifende Kompetenzen erlangen können, um ein wissenschaftliches Studium zu bewältigen und durch eine fragende und kritische Grundeinstellung Wissenschaft und Persönlichkeit zu befördern.“

Dies soll durch die Förderung bestimmter Kompetenzen geschehen. So wird geübt, Informationen zu strukturieren und ihren Gehalt miteinander zu vergleichen, um das Reflexionsvermögen zu erhöhen. Durch das Sammeln von Rechercheergebnissen sowie die Unterscheidung von wissenschaftlichen Argumenten von Meinungen und Behauptungen soll die Urteilsfähigkeit geschärft werden. Die Überprüfung der Plausibilität von Quelleninhalten dient einer besseren Medienkompetenz. Mit dem Setzen von erreichbaren Zielen und dem Erkennen eigener Defizite kann etwas für mehr Selbstkompetenz getan werden. Diese und viele weitere Inhalte des W-Seminars münden in eine Facharbeit, bei der ein Thema eigenständig bearbeitet wird.

In Thüringen, Niedersachsen und im Saarland wird in der Oberstufe im Seminarfach das wissenschaftliche Arbeiten geprobt. In Niedersachsen haben die SchülerInnen für das Schreiben einer 15-seitigen Facharbeit sechs Wochen Zeit. Darauf wird Nora Binz, die derzeit die 12. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums in Celle besucht, seit dem neuen Schuljahr im Seminarfach vorbereitet, das über drei Semester unterrichtet wird. Wie schreibt man Fußnoten, wie zitiert man richtig, wie findet man Literatur – einige Fragen, mit denen sie sich bislang beschäftigt hat. Das Zitieren und der richtige Gebrauch des Konjunktivs werden nochmal geübt, bereits in der Mittelstufe waren das Themen im Deutschunterricht. In der Word-Schulung wird unter anderem das richtige Einstellen der Seitenränder, das für das formal korrekte Abfassen der Facharbeit wichtig ist, wiederholt – auch damit hat man sich bereits in vorhergehenden Klassen befasst.

„Das Ergebnis sagt nichts darüber aus, ob man studieren kann“

In der Jahrgangsstufe von Binz gibt es vier parallel laufende Seminarfach-Kurse, die immer von zwei Lehrkräften unterrichtet werden und die die Titel „Gut und Böse in der Literatur“, „Medienanalyse“, „Angezählt“ und „Sinn und Unsinn unseres Tuns“ tragen. „Ich habe mich für ‚Angezählt‘ entschieden, weil man da bei der Themenfindung für seine Facharbeit sehr frei ist und je nach Interesse einen naturwissenschaftlichen, sprachlichen oder gesellschaftlichen Schwerpunkt wählen kann. In den anderen Kursen besteht durch das Oberthema eine stärkere Festlegung“, sagt Binz. In diesem Halbjahr begeben sich die SchülerInnen auf Themensuche. „Wir überlegen uns etwas und können dann darüber mit den Lehrern sprechen“, sagt Binz. Bei Vorschlägen wie „Der Nordirlandkonflikt“ kommt der Einwand, dass dieses Thema wegen seiner Aktualität nicht so geeignet sei. Jemand anderes möchte gerne etwas über Ängste schreiben – auch dieser Vorschlag stößt bei den Lehrkräften wegen des sehr persönlichen Inhalts auf Skepsis.

Danach folgt eine Hausarbeit, bei der auf zwei Seiten begründet werden soll, warum sich das Thema für eine Facharbeit eignet. Dafür haben Binz und ihre MitschülerInnen drei Wochen Zeit. Im nächsten Halbjahr steht dann das Schreiben der Facharbeit im Mittelpunkt. Dabei geht es auch darum, den Aufwand richtig einzuschätzen, nicht zu spät zu beginnen und alles mit dem übrigen Schulalltag unter einen Hut zu bringen. „Das ist schon eine ungewohnte Situation, aber viele freuen sich, dass sie ein interessantes Thema umfassend bearbeiten können. Ich auch“, sagt Binz, die überlegt, sich in ihrer Facharbeit näher mit dem Einfluss der westlichen Kultur auf die Kultur der Aborigines in Australien zu befassen.

„Die Motivation ist bei den meisten groß, viele nehmen die Facharbeit sehr ernst“, sagt Lehrer Alexander Wolf und fügt hinzu: „Bei den Zensuren, die auch im Abiturzeugnis auftauchen, sind die Ergebnisse oft besser als in den Klausuren.“ Wolf, der an einem Gymnasium in Rinteln Deutsch und Geschichte unterrichtet, erlebt aber auch immer wieder, dass SchülerInnen scheitern – weil sie zum Beispiel am Thema vorbeischreiben oder mit dem Zeitmanagement Probleme haben: „Auch das kann eine wichtige Erfahrung sein. Das Ergebnis sagt nichts darüber aus, ob man studieren kann.“

Wolf betont, dass zum Beispiel die Nutzung von Quellen nicht erst im Seminarfach thematisiert werde. Dabei stellt er ein wachsendes Bewusstsein mit zunehmendem Alter fest: „In der Mittelstufe verlassen sich viele auf die ersten fünf Treffer in den Suchmaschinen. Im Seminarfach ist klar, dass idealer Weise Print-Quellen herangezogen werden sollen. Wikipedia kann eine gute erste Anlaufquelle sein, aber das reicht nicht aus und das wissen die Schüler auch.“
Der Umgang mit Quellen hängt laut Lutz Bleichert, Mathematik- und Physiklehrer an einem Gymnasium in Hildesheim, immer mit dem Thema der Facharbeit zusammen. „Ein Schüler hat mir vorgeschlagen, dass er seine Facharbeit über ein spezielles Kleinwasserkraftwerk schreiben möchte, über das es nur eine Quelle gibt. Das ist auch in Ordnung – entscheidend ist, dass man beim Thema in die Tiefe geht“, sagt Bleichert, der während der Facharbeit seinen SchülerInnen als Ansprechpartner zur Verfügung steht.

Nach der Abgabe stellen sie ihr Thema in einem Vortrag im Seminarfach mündlich vor. Dabei sollen sie auch die Arbeitsweise beschreiben, Schwierigkeiten benennen, eine Perspektive für die Vertiefung des Themas entwickeln und das Ganze mit den MitschülerInnen diskutieren. Darauf freut sich Nora Binz schon: „Wir werden an unserer Schule die Themen in Gruppen aufarbeiten und können dabei kreativer werden und zum Beispiel Podcasts machen.“
Ob das in Bayern formulierte Ziel der Studierfähigkeit durch das Fach wirklich erreicht wird, bleibt offen – die seit den 90er Jahren immer wieder von Professoren und Dozenten formulierte Kritik, dass große Teile der Erstsemester nicht zu abstraktem, analytischem und kreativem Denken in der Lage seien, ist nicht leiser geworden.

Text: Joachim Göres
Dieser Artikel wurde übernommen aus dem Klett-Themendienst Nr. 110 (12/2022).

Kompakt

In Niedersachsen und in weiteren Bundesländern schreiben SchülerInnen im Seminarfach eine umfangreiche Facharbeit in einem meist selbst gewählten Thema. Lehrkräfte stehen ihnen dabei beratend zur Seite. In der Vorbereitung darauf werden unter anderem das richtige Zitieren, der richtige Gebrauch des Konjunktivs und das Schreiben von Fußnoten geübt. Nach Abgabe der Facharbeit präsentieren die SchülerInnen ihre Ergebnisse in einem Vortrag, reflektieren ihre Arbeitsweise und diskutieren ihre wichtigsten Erkenntnisse.

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Dieser Artikel aus dem Klett-Themendienst noch vom Dezember wird aktuell gerade durch Nachrichten konterkariert, die die Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz beschreiben, die Aufsätze sowie Fach- und Seminararbeiten Ihrer Schülerinnen und Schüler zu schreiben. Schreiben Sie uns gerne, welche Vorstellungen das bei Ihnen auslöst, welche Erfahrungen Sie damit schon gemacht haben und welche Möglichkeiten Sie sehen, damit umzugehen.

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