21. April 2023
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Bibliotheken sind zugleich Sehnsuchtsorte aller wahren Leserinnen und Leser und haben die literarische Fantasie immer schon beflügelt. Und das betrifft keineswegs nur die Literatur als Kunstgattung – man denke an Autoren wie Eco, Borges oder Murakami –, sondern auch und gerade die Unterhaltungsliteratur (Fantasy, Krimi, Jugendbuch).

Bibliotheken als Sehnsuchtsorte

Was uns bislang am Buch interessiert hat, war in den meisten Fälle natürlich nicht das Medium an sich, also die Hardware. Vielmehr verwenden wir den Begriff „Buch“ meist metonymisch für das, was im besten Falle in Büchern steht: wertvolles Wissen und ergreifende Dichtung. Genau aus diesem Grunde hat man über Jahrhunderte Büchern beinahe Tempel als Bibliotheken gebaut, als Ausdruck der Wertschätzung der besten Inhalte.

Wertschätzung der alten Bibliotheken

Doch das Internet und die neuen Medien haben diese alte Bibliothek gehörig unter Druck gesetzt. Wir alle spüren das und fürchten den Verlust. Es schwingt auch Nostalgie mit, wenn in den letzten gut zehn Jahren zahlreiche Bücher erschienen sind, die der (alten) Bibliothek huldigen: „Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken“, „Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents“, „Büchertempel. Die schönsten Bibliotheken aus aller Welt“, „Die Bibliothek. Kulturgeschichte und Architektur von der Antike bis heute“, „Geschichte der abendländischen Bibliotheken“ oder „Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft“ – und in dieser Liste sind die Bücher Alberto Manguels noch nicht einmal berücksichtigt.

Neubelebung der Bibliothek als „Dritter Ort“

Zugleich erscheint die Bibliothek eine Art Neubelebung zu erfahren, die sich gerade der Erkenntnis verdankt, dass der bloße Umbau der Bibliothek zur Mediathek mit öffentlichem, freiem Internetzugang diesen Ort nicht retten wird.

Bereits Ende der 1980er-Jahre hatte der amerikanische Stadtsoziologe Ray Oldenburg ein Konzept vorgestellt, dass die Bibliothek – nach den beiden ersten Orten, dem Zuhause und dem Arbeitsplatz – als Dritten Ort sehen will, einen Ort der Information und des Wissens, der gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und frei zugänglich ist. Tatsächlich sind in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe besonderer Bibliothekskonzepte realisisiert worden. Man denke an die Openbare Bibliotheek Amsterdam (2007), an die Stadtbibliothek Stuttgart (2011) oder an die Staatsbibliothek Dokk1 im dänischen Aarhus (2015).

Eine Bibliothek als Dritter Ort muss natürlich nicht mehr (nur) Bücher sammeln. Sie unterbreitet vielmehr Bildungs-, Austausch- und Unterhaltungsangebote.

Mediale Transformationen

Doch auch das Sammeln und Verfügbarhalten von Büchern könnte einen neuen Wert bekommen. Nicht dass das Medium Buch aktuell unter Druck wäre, doch hat es sich auch zum Massenartikel verwandelt: Buch, Hörbuch, E-Book oder Print-on-Demand.

Dass das Medium nicht ohne Einfluss auf den Inhalt bleibt, ist dabei im Deutschunterricht schon längst bekannt und wurde bislang vor allem am Beispiel der Literaturverfilmung thematisiert, wie umgekehrt der Einfluss des Films auf das Schreiben immer wieder einmal ein Thema ist, man denke etwa an den filmischen Blick Kafkas oder die Montagetechnik Döblins. Die Frage des Verhältnisses von Form und Inhalt stellt sich aufgrund der zunehmenden medialen Transformationen aber noch breiter: Hat heute nicht jede Autorin wenigstens ein bisschen auch die mögliche Verfilmung ihres Romans im Hinterkopf, wenn sie schreibt? Oder muss sich nicht jeder Autor auch fragen, zumal, wenn er von seinem Schreiben auch leben will, ob und wie diese oder jene Passage später als Hörbuch wirkt?

„embodied reader“ und Lesenlernen

Wir wissen heute, dass auch die physische und kulturelle Umgebung Teil unseres Bewusstseins ist. Die neuere Kognitionsforschung spricht von „Embodiment“ und geht von einem „embodied reader“ aus: Körper und Geist bedingen sich auch beim Lesen wechselseitig. Und längst ist klar, dass das Lesen am Bildschirm über individuelle Unterschiede hinaus eine andere Form der geistigen Verarbeitung erfordert als das Lesen im Buch. Besonders das Lesenlernen fällt offenbar leichter, wenn es einen physischen Halt gibt. Noch grundsätzlicher muss mit Blick auf die Transformation von gedruckten Büchern zu Hörbüchern und E-Books also gefragt werden: Welche Unterschiede bestehen zwischen dem Hören und dem Lesen eines Buches? Versteht man Gehörtes in derselben Weise wie Gelesenes? Lernt bzw. erinnert man sich genauso? Welchen Mehrwert hat, gerade auch im Prozess des Lesenlernens, ggf. ein gedrucktes Buch gegenüber einem E-Book-Reader? Fragen dieser Art werden sich noch drängender stellen, wenn das Internet als Raum noch mehr an Bedeutung gewinnt, wenn man nicht mehr nur eine Transformation ins Digitale mitdenkt, sondern man zuallererst für das Medium Internet schreibt und eine spätere Printversion allenfalls eine mögliche Zusatzverwertung dieses Schreibens darstellt.

Gleichzeitig verweist die Embodimentforschung auf die Bibliothek und ihre Neubelebung zurück. Denn je stärker die mediale Transformation des Buches voranschreitet, desto wichtiger könnte die Bibliothek als Ort des guten, schönen, besonderen Buches sein. Diese Aufgabe dürfte sich der Bibliothek womöglich auch deshalb stärker stellen, weil die Schule künftig immer stärker gehalten sein wird, mit den Schülerinnen und Schülern auch das Lesen längerer Texte am Bildschirm zu üben.

Qualiätssicherung

Ein Letztes kommt hinzu, und damit kehren wir zugleich zum Ausgang zurück: Auch wenn uns das Buch als physisches Objekt nicht gleichgültig sein kann, so interessiert uns doch vor allem die inhaltliche Qualität. Und wenn es künftig die Aufgabe der Bibliothek ist, allen Leserinnen und Lesern Bildungs-, Austausch- und Unterhaltungsangebote zu unterbreiten, so wird die Bibliothek zugleich streng über die Qualität dieses Angebots wachen müssen. „Qualitätssicherung“ meint dabei mehr als die Überprüfung der Verlässlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit eines Inhalts. Es geht vielmehr auch um die Frage, was wertvoll, bewahrens- und mitteilenswert sein könnte. Eine Frage nebenbei, die man auch im Deutschunterricht zur Urteilsschulung häufiger einmal stellen könnte.

Die Bände „Deutsch kompetent 10“ und „Deutsch kompetent 11“ der Bayern-Ausgabe setzen thematische Schwerpunkte auf die „Veränderungen des Lesens und der Literatur im digitalen Zeitalter“ (Band 10, Kapitel 1, Blick ins Buch) sowie auf „Die Geschichte und die Zukunft der Bibliothek“ (Band 11, Kapitel 2, Blick ins Buch)

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am 23. April ist Welttag des Buches

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