12. Mai 2021
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Kafkas Romanfragment Der Verschollene erzählt von der Odyssee des siebzehnjährigen, von seinen Eltern zur Auswanderung genötigten Karl Rossmann in Amerika. Der Text wird oft als „verhinderter Bildungsroman“ oder „negativer Entwicklungsroman“ bezeichnet, weil Karls Reise ins Ungewisse erkenntnislos und damit ein handlungsleitendes Bildungskonzept unbestimmbar bleibt. Doch wie könnte man sich mit den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe diesem rätselhaft-faszinierenden Fragment voller merkwürdiger Figuren und Begebenheiten annähern? Unser Autor Dr. Stefan Schäfer schlägt einen Zugang über das Motiv des Zweifels vor.

Karl – naiv, unentschlossen und überfordert, die enigmatischen Normen einer materialistisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verstehen – durchlebt einen sozialen Abstieg vom privilegierten Neffen eines (einfluss-)reichen Onkels bis zum unbedeutenden Arbeiter an einem Theater, das keine Einstellungsvoraussetzungen kennt. Insofern ihm jene spitzbübische Schlitzohrigkeit fehlt, die ihn zum gerissenen (Über-)Lebenskünstler machen könnte, der sich bietende Chancen fantasievoll für sich zu nutzen wüsste, erscheint Karl – erst recht in dem durch die Abiturvorgaben Baden-Württembergs gesetzten Kontext mit Thomas Manns Fragment Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull – als „Anti-Picaro“, wie ihn Paul Heller in Kindlers Neues Literatur Lexikon charakterisiert. Nicht schelmische Durchtriebenheit und mutige Gewitztheit, sondern naive Gutgläubigkeit und zweifelnde Unentschlossenheit gegenüber den undurchsichtigen Regeln der fremden Gesellschaft prägen Karls Weg des zunehmenden „Verschallens“ (so die Etymologie von „verschollen“).

Zweifel als Hemmnis der Entwicklung?

Den eigenen Alltagserfahrungen korrespondierend, bezeichnet „Zweifel“ laut dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm im allgemeinen Sinne die „Ungewissheit angesichts zweier Möglichkeiten des Entscheidens oder Handelns“. Wolfram von Eschenbach geht einen Schritt weiter und beginnt den Prolog seines Parzival (mit dem Karl Rossmann gelegentlich verglichen wird) mit folgender Einsicht: „ist zwîvel herzen nâchgebûr, / daz mouz der sêle werden sûr.“ (in der Übersetzung von Dieter Kühn: „Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, / das muss der Seele sauer werden.“). Damit wird klar: Hier geht es um Grundsäzliches. Wohnt der Zweifel nah beim Herzen oder ist er der Seele Hobel, wie es anderer Stelle im Parzival heißt (vgl. 350, 30: „der zwîvel was sîns herzen hovel“), dann wird der Zweifel zum negativen Gemütszustand und muss dann zur Antwort auf die Frage nach dem eigenen Selbst werden.

Der Heizer und der Onkel – Sinnbilder möglicher Entwicklungslinien?

1913 erscheint Der Heizer, das erste Kapitel aus dem Verschollenen, in der expressionistischen Schriftenreihe Der jüngste Tag. Mit diesem Heizer schließt Karl noch vor dem Betreten des New Yorker Hafens Freundschaft und will ihm helfen, sich gegen mutmaßliche Verleumdungen vor dem Kapitän des Schiffs zu verteidigen. In der Kapitänskajüte wird Karl von seinem Onkel, der schon vor langer Zeit nach Amerika ausgewandert und dort zu Geld und hohem Ansehen gelangt ist, überraschend erkannt. „‚Er ist mein Onkel, kein Zweifel‘, sagte sich Karl“. Der Onkel überzeugt Karl, ihm in eine (vermeintlich) positive Zukunft zu folgen und den Heizer der Disziplinargewalt des Kapitäns zu überlassen. Die Episode endet offen: „Karl fasste den Onkel, mit dessen Knien sich die seinen fast berührten, genauer ins Auge, und es kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können“.

Die erzählte Zeit des „Heizer“-Kapitels erstreckt sich über etwa zwei Stunden. So lang oder kurz kennt Karl nur den Heizer, und den Onkel noch deutlich kürzer. Es liegt also nahe, die Gründe für Karls Zweifel jenseits der noch oberflächlichen persönlichen Bindungen zu suchen. Der Heizer mag Karl sympathisch sein, aber darüber hinaus steht er für Karl wohl auch stellvertrend für etwas: für seine Heimat Europa, die seine Moral- und Wertvorstellungen geprägt hat, für einen niederen sozialen Stand und existenzielle Sorgen, mit denen Karl sich identifiziert und schließlich für die persönliche Bedrohung durch ungerechtfertigte Anwürfe. Ganz anders der Onkel. Er steht für das fremde, unbekannte, unüberschaubare Amerika, für eine exponierte, forsch handelnde Gesellschaftsschicht, für Reichtum und die unanfechtbare Gewissheit, selbst die Regeln definieren zu können. „‚Begreifen Sie doch junger Mann ihr Glück‘“, lautet dazu die spontane Reaktion auf die Möglichkeiten, die sich Karl an der Seite seines Onkels eröffnen könnten. Und doch hat Karl Zweifel, die sich erst aus der Frage nach dem eigenen Selbst erhellen: Wohin gehöre ich? Was will ich in und mit meinem Leben anfangen? Mit wem will ich zusammen sein?

Dieser grundlegende, Karl unterschwellig beschäftigende Zweifel an einem kapitalistischen System in Amerika, das die Gerechtigkeit der Disziplinierung des entindividualisierten Einzelnen in einer ausbeuterischen Maschinerie unterordnet, kehrt in Gestalt einer beständigen Unsicherheit, wie Menschen und Umstände richtig einzuschätzen sind, in den Folgekapiteln wieder: Karl zweifelt an der Bedeutung von Handlungen und Aussagen, vergewissert sich, dass seine Entscheidungen „außer jedem Zweifel“ stehen, schließt „jeden Zweifel“ aus, antizipiert das richtige Verhalten in „Zweifelsfällen“ und denkt „zweifelnd“. Auch und gerade über das zur Einschätzung von Begegebenheiten gebrauchte Adverb „zweifellos“ bricht sich der Zweifel wiederholt und mächtig Bahn.

Karls Zweifel – Charakterschwäche oder Warnsignal?

In einem Brief an seinen Verleger Kurt Wolff vom 11. April 1913 hält Kafka fest: „Der Heizer, Die Verwandlung […] und Das Urteil gehören äußerlich und innerlich zusammen, es besteht zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in einem etwa Die Söhne betitelten Buch ich nicht verzichten möchte.“ Zur Erinnerung: Die Söhne in der Verwandlung (Gregor Samsa) und im Urteil (Georg Bendemann) kommen am Ende jeweils zu Tode. Und so erweisen sich Karls Zweifel als allzu berechtigt.

Die Schülerinnen und Schüler sind in einem ähnlichen Alter wie Karl (und Parzival), in dem solche Zweifel besonders wichtig und drängend sind. Man kann zuversichtlich sein, dass sie den Weg der Figur mit einigem Interesse (im ursprünglichen Wortsinne des „Dazwischenseins“) verfolgen werden. Dafür sorgt schon die personale Erzählweise Kafkas, die den Leser ganz an die Hauptfigur bindet. Vielleicht könnten die Schülerinnen und Schüler aus Karls Verhalten lernen: Wenn auch für ihn anfangs wohl kaum zu erahnen ist, dass er am Ende an den „amerikanischen Verhältnissen“ scheitern würde (obschon auch das natürlich zu diskutieren wäre), hätte er seine Zweifel und damit sich selbst doch ernster nehmen müssen; das muss er sich schon vorwerfen lassen.

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