20. Mai 2020
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„Warum müssen wir diesen Text lesen?“ – Um auf diese Schülerfrage eine sinnstiftende Antwort zu finden, hat sich unser Autor Dr. Stefan Schäfer Gedanken zum Lebensweltbezug von Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ gemacht und gibt Denkanstöße für die Re-Lektüre einer „alten“ Novelle. Sie ist eine der Abiturlektüren im Basisfach in Baden-Württemberg ab 2021. Ist sie geeignet, um im Spiegel unserer heutigen Zeit neue Perspektiven zu eröffnen?

„Bezug zur Erfahrungswelt“, „Lebensnähe“, „Realitätsbezogenheit“ oder auch „Lebensweltbezug“ – mit diesen Stichworten werden didaktische und pädagogische Leitlinien bezeichnet, die auch und gerade für den Literaturunterricht von zentraler Bedeutung sind.

Soll die von Schülerinnen und Schülern oft gestellte Frage Warum müssen wir (ausgerechnet) diesen Text lesen? eine befriedigende, sinnstiftende Antwort finden, darf sich die Erarbeitung gerade älterer literarischer Werke nicht ausschließlich auf die Texte selbst und deren unmittelbaren Entstehungszusammenhang konzentrieren. Sie muss vielmehr stets im Blick behalten, dass Literatur immer dann als besonders lebendig und aussagekräftig erfahrbar wird, wenn sie auch als alltagsnahe Spiegelung relevanter Erfahrungen der aktuellen Wirklichkeit greifbar ist.


von Dr. Stefan Schäfer

Fuggièro – ein unsymphatischer Charakter

Sommer im faschistischen Italien der späten 1920er-Jahre: Der Strand ist hauptsächlich bevölkert von Angehörigen der inländischen Mittelschicht. Darunter unvermeidlich auch menschliche Mediokrität, bürgerliches Kroppzeug. „Fuggièro!“ Was für Stimmen diese Frauen haben! Doch Fuggièro, ein abscheulicher Junge mit ekelerregender Sonnenbrandwunde, hört nicht, denn ein Krebslein hat ihn gezwickt, weshalb er den Strand kurz darauf mit antikischem Heldenjammergeschrei terrorisiert. Selbst als ein herbeigeholter Arzt die Unbedenklichkeit des Kniffs bestätigt, schafft es Fuggièro, unter der allgemeinen Aufmerksamkeit auf einer Bahre abtransportiert zu werden. Schon am nächsten Morgen kann er wieder, unter dem Scheine der Unabsichtlichkeit, die Sandburgen anderer Kinder zertreten.

Atmosphärische Störungen – Gegenwartsbezüge

Die Aktualität der Figur aus Thomas Manns 1930 erschienener Novelle „Mario und der Zauberer“ ist offensichtlich: In Fuggièro kann man den bildungsfernen, ichbezogenen Hater, der in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarbereichen der Newsmedien sein Unwesen treibt, genauso erkennen wie den Populisten, der sich in schwer erträglicher Arroganz und Selbstverliebtheit zum Mittelpunkt des Seins erklärt und sich – anscheinend unbehelligt von Anstand und Gewissen – seine eigenen Fakten schafft.

Doch welche Rückschlüsse lassen sich aus dieser Aktualität ziehen? Der Erzähler in Thomas Manns stark autobiografisch geprägter Novelle rechnet Fuggièro zu den „Hauptträgern einer öffentlichen Stimmung“, in der „Politisches umging, die Idee der Nation im Spiel war“. Gleichwohl wollte Thomas Mann noch 1932 „die Bedeutung der kleinen Geschichte […] lieber im Ethischen als im Politischen sehen“. Die politische Lesart setzte sich bei Mann erst in den 1940er-Jahren durch. 1947 deutet er sie dann in einem Brief an Henry Hatfield als seine „erste Kampfhandlung gegen das, was damals schon die europäische Gesamtatmosphäre erfüllte“.

Ist die Aktualität der Novelle wieder Anzeichen einer „Präformation für Diktatorisches“, wie der Interpret Helmut Koopmann dies angesichts der politischen Lage der 1920er-Jahre in Italien wie in Deutschland einmal gefasst hat? Sind atmosphärische Störungen eigentlich überhaupt eine Voraussetzung oder nicht doch eher die Folge von autoritären Strukturen? Oder bedingen sie sich gegenseitig?

Mario – eine Frage des Willens

Über diesen politisch-gesellschaften Implikationen, deren Gegenwartsbezug sich auf den genannten Ebenen entfalten lässt, darf jedoch die zentrale, stets aktuelle Frage der Novelle nicht außer Acht gelassen werden, nämlich die nach der Willensfreiheit. Die Manipulation durch „Willensentziehung und -aufnötigung“, die der Zauberer Cipolla im späteren Verlauf der Novelle so machtvoll demonstriert, führt letztlich dazu, dass er von Mario erschossen wird. Diese heftige Reaktion Marios wirft spannende Fragen auf, die Interpretation und Aktualitätsbezug der Novelle zusammenführen: Kann man es etwa Fuggièro, um noch ein letztes Mal auf den wehleidigen Schreihals zurückzukommen, allein vorwerfen, wenn er den halben Strand in Trab hält? Braucht es nicht zur Willensaufnötigung auch eine Gegenseite, Menschen also, die sich unterwerfen? Und wie könnten gebildete Menschen, die wie der Erzähler in Manns Novelle die Vorgänge intellektuell durchdrungen haben, Willensmanipulationen gegebenenfalls verhindern?

Perspektiven

Thomas Manns „tragisches Reiseerlebnis“, so der Untertitel der Novelle, bietet für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe somit einen wirklich ergiebigen und zugleich höchst aktuellen Diskussionsstoff. Dass der Text auch noch vergleichsweise kurz und spannend erzählt ist und außerdem eine reiche Quelle für die Sprach- und Erzähltextanalyse darstellt (den Wert des Künstlerischen der Novelle betont Mann übrigens 1932 wie in den 1940er Jahren), macht ihn nahezu zur idealen Oberstufenlektüre.

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