22. Februar 2024
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Familienromane erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit – ob Ulla Hahns Unscharfe Bilder (2003), Eugen Ruges In Zeiten abnehmenden Lichts (2011) oder jüngst Fatma Aydemirs Dschinns (2022). Vor dem Hintergrund von Thomas Manns epochalem Roman Buddenbrooks (1901) greifen die oft ebenso umfangreichen Familienromane der Gegenwart das Wechselspiel von Familien- und Zeitgeschichte auf und spiegeln neuere Debatten zu Möglichkeiten und Grenzen eines narrativ entwickelten Geschichtsverständnisses.

Mit Heimsuchung (2008) von Jenny Erpenbeck ist nun ein Erzähltext Abiturthema, der sich diesen Fragen in einer komplex durchkomponierten Struktur auf vergleichsweise wenigen Seiten widmet.

Geschichten und Geschichte

Das Geschehen wird eingerahmt von einem Prolog und einem Epilog, die am Beginn die „vormenschliche“ geologische Entstehung des „Märkischen Meeres“, des Schauplatzes der Geschichte, und am Ende das Wieder-zu-sich-Finden der vom Wirken des Menschen unbeeindruckten Landschaft schildern. Zwischen Prolog und Epilog stellt der Roman aus einer meist distanzierten Erzählperspektive episodisch zwölf Biografien vor, die einen Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Nachwendezeit umfassen. Topografisches Zentrum ist ein Haus am Scharmützelsee in Brandenburg, in dem die wechselnden Bewohner ein Heim in Gestalt eines Zentrums für ihre „kleinen“ (Familien-)Geschichten suchen und dabei von der „großen“ Geschichte und ihren schicksalhaften Einflüssen auf den eigenen Lebenslauf heimgesucht werden. Nationalsozialismus, Exil und Shoah in der ersten Hälfte, die deutsche Teilung, das Leben in der DDR und schließlich die Wiedervereinigung in der zweiten Hälfte des Romans bestimmen die Biografien der Bewohner. Ihre Entscheidungen und ihr Handeln spiegeln zentrale Fragen nach Schuld, Erinnerung, Verlust und dem Verhältnis von personaler zu kollektiver Identität.

Die Geschichte hinter der Widmung

Eine zentrale Bedeutung kommt dem Schicksal Doris Kaplans zu, eines zwölfjährigen jüdischen Mädchens, dem der Roman und das Kapitel Das Mädchen gewidmet sind. Sie ist die Enkelin von Hermine und Arthur, die in Guben eine Tuchfabrik betreiben und Mitte der 1930er-Jahre ein Grundstück am See erwerben, das sie 1939 angesichts der rassistisch-antisemitischen Repressionen des NS-Staats wieder verkaufen (müssen), um ihre Ausreise nach Kapstadt zu finanzieren. Der Plan misslingt, Arthur und Hermine werden in Kulmhof bei Litzmannstadt in einem Gaswagen ermordet. Elisabeth und Ernst, Doris´ Eltern, wollen nach Brasilien auswandern, doch Ernst, als Zwangsarbeiter beim Autobahnbau eingesetzt, stirbt an Fleckfieber. Elisabeth und Doris werden ins Warschauer Ghetto deportiert. Vor ihrem Tod gelingt es Elisabeth noch, Doris zu verstecken.

Das Kapitel Das Mädchen handelt von Doris in ihrem Versteck kurz vor ihrer Entdeckung. Ihre farbenfrohen Erinnerungen an das Haus am See kontrastieren mit der schwarzen Kammer, in der sie sich versteckt und in der ihre Identität Satz für Satz zurückgenommen wird – geschildert in einer nüchternen, statuarisch-aufzählenden Sprache, die die Monstrosität des Erzählten nur umso deutlicher hervortreten lässt. Ihrem Vergessenwerden steht jedoch die Widmung des Romans von Jenny Erpenbeck entgegen; die identitätsstiftende Namensnennung übergibt ihr Schicksal dem kollektiven Gedächtnis.

Realität und Fiktion: erzählend erinnern

Ein besonderes Merkmal des narrativen Erinnerungsraums, den der Roman über die Perspektivenvielfalt der verschiedenen Personen über die Zeit hinweg absteckt, ist sein Bezug zur außerfiktionalen Realität: Den Großeltern Jenny Erpenbecks gehörte in Diensdorf am Scharmützelsee ein Haus, das diese nach ihrer Rückkehr aus dem Moskauer Exil in die DDR kauften. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass der Text – etwa im Kapitel Die Schriftstellerin oder in Die Hausbesitzerin, das von der Rückgabe des Hauses aufgrund der neuen Besitzverhältnisse nach der Wende handelt –, von persönlichen Erinnerungen Erpenbecks geprägt ist. Außerdem stellte sie im Vorfeld der Niederschrift in Berliner und Brandenburger Archiven umfangreiche Recherchen zur (Vor-)Geschichte des Hauses an. Der Gubener Heimatforscher Andreas Peter und Überlebende der jüdischen Familie Engel gaben den Anstoß, sich näher mit der Lebens- und Leidensgeschichte von Doris Kaplan zu beschäftigen.

Nicht zuletzt wegen dieser „realistischen Grundierung“ ist Heimsuchung ein ebenso wichtiger wie aktueller Anlass, über unseren Umgang mit unserem kollektiven Gedächtnis nachzudenken und sich mit den verschiedenen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, es lebendig zu halten.

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Jenny Erpenbeck Heimsuchung

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