16. Juni 2023
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Im bayerischen Abitur 2023 war es ein Thema, auch jede Rezension kommt darauf zu sprechen, wenn es sich um die Verfilmung einer literarischen Vorlage handelt: das Verhältnis von Vorlage und Adaption.

Verfilmungen einer literarischen Vorlage − „ein ganz anderes Fleisch“

Viele aktuelle filmdidaktische Veröffentlichungen warnen davor, den Film an der schriftliterarischen Vorlage zu messen und gleichsam die Vorlage zum Maßstab für ein Urteil über den Film zu machen. Diesem Ansatz ist unbedingt zuzustimmen, aber die Erkenntnis ist eigentlich schon bedeutend älter. Schon vor knapp hundert Jahren formulierte der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs (Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films, 1924), dass die „Wesensverschiedenheit“ sich am deutlichsten dann erweise, wenn ein guter Roman oder ein gutes Drama ‚verfilmt‘ werde. Die Kamera mache literarische Werke durchsichtig wie vor Röntgenstrahlen, wobei die Fabel als Knochengerüst bleibe, aber das „schöne Fleisch der Gedankentiefe“, die „zarte Haut des lyrischen Tönens“ verschwänden. Dem Skelett müsse „ein ganz anderes Fleisch“ und „eine andere Epidermis“ geschaffen werden, um ihm Leben einzuhauchen.

Dass jedes Medium – Schriftliteratur und Film – nur durch seine jeweils spezifischen Mittel wirken kann und diese unterschiedlichen Gestaltungsmittel keinen wertenden Vergleich erlauben, wird mit der bildlichen Formulierung „ein ganz anderes Fleisch“ wunderbar treffend ausgedrückt.

Filmspezifische Gestaltungsmittel Philipp Stölzls in der Verfilmung der Schachnovelle

Vielleicht war noch kein Film so gut geeignet, einen Beweis für die These von Balázs zu liefern, wie die aktuelle Verfilmung von Stefan Zweigs Schachnovelle durch Philipp Stölzl aus dem Jahr 2021. Die Kernaussage von Zweigs Vorlage wurde nicht verändert. Auch in Stölzls Version geht es darum, das menschenverachtende System der Nationalsozialisten in seiner ganzen Brutalität darzustellen. Allerdings wird dafür im Film die Erzählstruktur verändert. In Zweigs Novelle handelt es sich um eine klar erkennbare Struktur nach dem Muster Rahmenhandlung – Binnenhandlung – Rahmenhandlung; es handelt sich eigentlich um eine Novelle in der Novelle. Die Binnenhandlung funktioniert wie eine einzige lange Rückblende:

Grafik: Rahmenhandlung – Binnenhandlung

Diese Handlungsebenen werden in der Verfilmung von Philipp Stölzl neu angeordnet. Die Erzählstruktur hat die Form einer Handlungsgegenwart, die immer wieder von Rückblenden unterbrochen wird:

Grafik: Erzählstruktur im Film

Im Verlauf des Films wirkt diese Anordnung immer seltsamer. In der Sequenz von 1:22:26−1:36:19 erfolgen die Schnitte schließlich so schnell, dass Zuschauerinnen und Zuschauer Gegenwart und Rückblende nicht mehr auseinanderhalten können und sich die Ebenen zu überlagern scheinen. Ohne hier zu viel verraten zu wollen, muss noch erwähnt werden, dass diese Irritation das Ergebnis einer Erzählstruktur ist, die man als unzuverlässiges Erzählen bezeichnet. Es fehlen klare Markierungen beim Übergang zwischen Diegese und Metadiegese (nach Genette, Souriau), also zwischen hier der erzählten Welt/filmischen Realität und der Visualisierung des Innenlebens der Figur.

Grafik: Verhältnis Innensicht und Außensicht

Mind-Bender-Filme

Filme mit einer unzuverlässigen Erzählstruktur werden häufig unter dem Begriff Mind-Bender-Filme zusammengefasst. Der Begriff drückt aus, dass die Täuschung funktioniert, weil sich Zuschauerinnen und Zuschauer aufgrund ihrer Mechanismen der Informationserarbeitung bzw. ihrer Sehgewohnheiten über die erzählte Welt täuschen, indem sie z. B. voreilige Schlüsse über die erzählte Welt ziehen. Dazu kommt, dass mit den Mitteln der Montage (Montage der Assoziation nach Balázs) innere Prozesse viel suggestiver vermittelt werden können als mit Worten, weil nach Balázs die „Begrifflichkeit des Wortes den irrationellen, halluzinativen Charakter der sinnlichen Wahrnehmung“ verfälscht. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist auch der Anfang des Films, der Hook der Schachnovellenverfilmung (00:35−02:02).

Klar ist jedenfalls: Die Figur Bartok ist durch die Isolationshaft schwer traumatisiert, seine Persönlichkeit am Ende vernichtet. Wie elementar diese Vernichtung ist, das macht der Film mit seinen Mitteln geradezu fühlbar.

Sie möchten sich die Literaturverfilmung anschauen?

Hier finden Sie die Sendetermine zur „Schachnovelle“.

u.a. Montag, 3.7.2023, um 20:15–21:55 Uhr auf ARD

Der Band Deutsch kompetent 11 der Bayern-Ausgabe widmet Stölzls Verfilmung der Schachnovelle ein ganzes Kapitel.

Schauen Sie sich im Blättern im Buch von Deutsch kompetent 11 Bayern auf den Seiten 192–215 das Kapitel „Literaturverfilmungen untersuchen − Spielen Sie Schach?“ an.

Sie möchten mehr über unsere Oberstufen-Reihe Deutsch kompetent für Bayern erfahren?

Dann schauen Sie gern auf der Lehrwerksübersicht vorbei.

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