9. Juni 2022
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Lehrkräfte arbeiten im Deutschunterricht bereits kleinschrittig und zielführend am Kompetenzaufbau ihrer Schülerinnen und Schüler (mit DaZ) – handlungs- und produktionsorientierte Schreibdidaktik statt Aufsatzunterricht und Grammatikstunden. Dennoch ist der Deutschunterricht oft noch viel zu muttersprachlich ausgerichtet.

Wenn Kinder in die Grundschule kommen, ist ihr Spracherwerb bei weitem nicht abgeschlossen. Auf der Ebene der Pragmatik, der Morphologie, beim Wortschatz und in der Syntax finden wichtige Re-Organisationsprozesse statt. Die Sprache wird um logische Verknüpfungen, irreguläre Flexionsformen, komplexe Wortbildungen und Satztypen angereichert. Dieser Prozess ist auch in der Sekundarstufe I noch nicht abgeschlossen und die Schule – sowohl im Deutsch- als auch im Fachunterricht – hat den entscheidenden Anteil daran, dass sich neben dem Register der Alltagssprache auch die Bildungssprache der Kinder entwickelt.

Allerdings sind die Unterschiede zwischen durchschnittlichen und sprachschwachen Schülerinnen und Schülern groß, in der Grundschule kann beispielsweise der Wortschatz zwischen beiden Gruppen um 6000 Wörter auseinanderliegen (Scott et al. 1992)[1]. Deutschlehrkräfte wissen das und richten ihren Unterricht danach aus. Auch von Schulbuchverlagen gibt es inzwischen vielfältiges Differenzierungsmaterial. Weil im Deutschunterricht primär das sprachliche Können bei der Bewältigung der Anforderungen eine Rolle spielt, kann durch Formulierungshilfen, Musterlösungen und die Vereinfachung von sprachlichen Strukturen für sprachschwache Kinder bereits viel erreicht werden.

[1] Scott et al. (1992). School-age children and adolescents: Establishing language norms. Paper presented at the annual convention of the American Speech-Language-Hearing Association, San Antonio.

Heterogenität als Matrix statt als Spektrum

Damit wird aber nur ein Spektrum von Leistungsheterogenität in Bezug auf das Beherrschen der deutschen Sprache berücksichtigt: das Spektrum zwischen Kindern mit unterschiedlich gut entwickelten Fähigkeiten in ihrer Erstsprache Deutsch. Um auch Lernende mitzudenken, die eine andere Erstsprache haben, muss man sich die Heterogenität eher als Matrix denken, in der es ebenfalls sprachstarke und sprachschwache Kinder gibt, außerdem aber auch unterschiedliche Entwicklungsstände in Bezug auf den Erwerb der Zweitsprache Deutsch.

Spracherwerb in Meilensteinen

Grafik Spracherwerb DaZ

Wenn ein einsprachiges Kind mit 2,5 Jahren Nebensätze bildet, spricht man von der Erreichung eines Meilensteins im Bereich der Syntax. Das Interessante am mehrsprachigen Spracherwerb ist, dass diese Meilensteine in der Zweitsprache ebenfalls erreicht werden, aber zu einem nicht vorhersagbaren Zeitpunkt – abhängig davon, in welchem Alter angefangen wurde, die Zweitsprache zu lernen. Das heißt, ein Kind, das mit 5 Jahren beginnt, Deutsch zu lernen, kann innerhalb von wenigen Monaten alle Meilensteine erreichen, für die ein einsprachiges Kind Jahre gebraucht hat. Die Strukturen sind durch den Erstspracherwerb bereits vorhanden und werden nun in Bezug auf die Zweitsprache modifiziert. Man spricht von frühem Zweitspracherwerb, wenn er in den ersten drei Lebensjahren beginnt, ein später Zweitspracherwerb beginnt spätestens im Vorschulalter. Danach schließt sich in der Regel das natürliche Spracherwerbszeitfenster und der Zweitspracherwerb ähnelt mehr dem Fremdsprachenlernen. Die Art des Zweitspracherwerbs ist von entscheidender Bedeutung dafür, in welchem Bereich der „Heterogenitäts-Matrix“ ein Kind sich befindet.

Zwei „neue Sprachen“ für alle: Bildungssprache und Schriftsprache

Mit dem Schuleintritt beginnen für alle Kinder, egal ob Erst- oder Zweitsprache Deutsch, gewissermaßen zwei „neue“ Spracherwerbe. Erstens erwerben Kinder in der Schule Schritt für Schritt Bildungssprache. Das ist nichts anderes als die Fortsetzung des natürlichen Spracherwerbs, der schulisch gefördert wird: Passivsätze, Konjunktive, Abstrakta usw.

Zweitens beginnt der Schriftspracherwerb und diesen kann man tatsächlich als „neu“ bezeichnen. Die deutsche Schriftsprache besitzt eine eigene Logik und das Prinzip „Schreib, wie du sprichst.“ lässt sich nur auf einen Teil des Wortschatzes, die lautgetreuen Wörter, anwenden. Der übrige Wortschatz ist vom silbischen und morphematischen Prinzip überformt. Dass die deutsche Schriftsprache in sich regelhaft und systematisch ist, wird vor allem von der neueren Rechtschreibdidaktik hervorgehoben, modelliert und didaktisch genutzt. Zum Beispiel wird die Auslautverhärtung nicht verschriftet, damit man den Wortstamm im Schriftlichen weiterhin auf den ersten Blick erkennen kann. Das Haus-Garage-Modell  ist bestens geeignet, genau solche sprachlichen Muster für sprachschwache Kinder und Kinder mit DaZ sichtbar und erlernbar zu machen. Die satzinterne Großschreibung kann mit Treppengedichten eingeübt werden. Beide Modelle eignen sich für Kinder mit DaE (Deutsch als Erstsprache) und DaZ gleichermaßen.

Darüber hinaus hat die deutsche Schriftsprache eine Reihe weiterer Stolpersteine, über die nur DaZ-Kinder stolpern und für die es im muttersprachlich orientierten Deutschunterricht kein Problembewusstsein gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur die Verortung in der oben dargestellten Matrix eine Rolle spielt, sondern auch welche die Erstsprache ist und welche Interferenzen das bedeutet (dazu sind beispielhaft und knapp drei häufige Erstsprachen im PDF im Downloadbereich dargestellt). Schauen wir uns ein Beispiel für einen vermeidbaren Stolperstein im Deutschunterricht genauer an:

Wen oder was hat der Wolf gefressen?

Häufig werden die vier Fälle im Deutschen mit der Frageprobe eingeführt. Die Schülerinnen und Schüler werden dazu angehalten, nach dem Akkusativobjekt im Satz mit „wen oder was?“ zu fragen. Das stellt für DaZ-Lernende eine Hürde dar, weil es eine Sicherheit in Standardsprache voraussetzt, die diese unter Umständen noch gar nicht besitzen. Ähnlich wie beim Genus ist man dabei sehr auf das Sprachgefühl angewiesen. Für die Deutschlehrkraft ist mit der Behandlung der vier Kasus das Thema in der Regel abgehakt, aber beim Schreiben scheitern die DaZ-Schülerinnen und -Schüler trotzdem immer wieder daran, „dem“ und „den“ richtig zu verwenden. Hilfreicher wäre es an dieser Stelle, wenn man sich als Lehrkraft bewusst machte, dass sowohl Verben als auch Präpositionen immer einen bestimmten Fall fordern. Indem man den richtigen Kasus zu Verben und Präpositionen z. B. bei Schreibaufgaben immer wieder gezielt und zugleich beiläufig notiert (beiläufig weil er für Kinder mit DaE keine Rolle spielt), unterstützt man die DaZ-Lernenden in ihrem Schriftspracherwerb enorm.

Stolpersteine auf allen Ebenen

Auch die anderen Stolpersteine bewegen sich auf der Grenze zwischen Rechtschreib- und Grammatikschwierigkeiten und werden im Schriftlichen besonders sichtbar: die Bedeutungsunterscheidung durch Vokallängen (MieteMitte), die enorme Bedeutungsvielfalt präfigierter Verben (ab-fahren, an-fahren, úm-fahren, um-fáhren, aus-fahren…), die Schwierigkeit mit zweiteiligen, trennbaren Verben und die Satzklammer (die z. B. mit dem Klammermann visualisiert werden kann), um nur einige zu nennen. Diese Stolpersteine unterrichtlich aus dem Weg zu räumen bedarf gar keiner vertieften DaZ-Kenntnisse, sondern zuallererst ein Problembewusstsein und stets einen gedanklichen Blick auf die Matrix.

Die Anbahnung von Bildungssprache stellt ein wichtiges Ziel gerade für DaZ-Kinder dar und ist zugleich ein wesentlicher Baustein für Chancengleichheit. Eine Differenzierung nach unten mit der Vereinfachung sprachlicher Strukturen und Textentlastung wäre hier kontraproduktiv! DaZ-Schülerinnen und Schüler brauchen gezielte Förderung in ihrem (Schrift-)Spracherwerb durch bildungssprachliche Textmodelle, die sie zunächst imitieren und mit der Zeit adaptieren können (Stichwort Scaffolding) und durch sprachdidaktische Modelle, die ihnen sprachliche Strukturen offenlegen und damit fehlendes Sprachgefühl kompensieren.

Am wichtigsten ist jedoch die Wertschätzung für diese Kinder im Deutschunterricht, denn Mehrsprachigkeit ist keine Bürde, sondern bezogen auf die Weltbevölkerung der Normalfall und in der Schule eine wertvolle Ressource, die den Unterricht bereichert.

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