13. November 2015
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In diesen Monaten finden sich viele KollegInnen vor einem höchst heterogenen Häufchen Kinder wieder, das sie sehr erwartungsvoll anschaut. Es ist vielleicht die heterogenste Lerngruppe, die sie je vor sich hatten – bezogen auf Alter, Herkunft, Familiensprache, schulische Vorbildung und individuelle Leistungsfähigkeit, ganz zu schweigen von eventuellen Traumata und sonderpädagogischen Förderbedarfen oder Alphabetisierungsbedarf. Manche sprechen vielleicht schon etwas Deutsch, andere gar nicht.

Zugleich besteht den DaZ-Förderlehrkräften gegenüber ein hoher Erwartungsdruck seitens der FachkollegInnen, die diese Kinder in ihrem Unterricht haben: Die Kinder sollen möglichst schnell ‚mitmachen‘ können. Und sie sollen bis dahin bitte etwas zu tun bekommen von der DaZ-Lehrkraft, die vielleicht nie zuvor DaZ unterrichtet hat.

Was tun? Einerseits ist dies angesichts der Heterogenität ein klassischer Fall von inklusiver Pädagogik: Offene Unterrichtsformen ermöglichen jedem Kind einen Zugang zum gemeinsamen Gegenstand gemäß seiner Interessen, seiner Lernpräferenzen und seines Leistungsstandes. In kooperativen bzw. kommunikativen Lernformen können sie viel voneinander lernen – eventuell mit gemeinsamen Familiensprachen als Verstehenshilfe.
Andererseits aber sind offene und damit auch etwas unsichere Situationen genau das, was diese Kinder nicht brauchen. Sie sind in einem fremden Land mit fremder Sprache und Kultur, gewohnte Bezugspersonen und Freunde sind vielen weggebrochen, manche müssen mit schlimmen Erinnerungen leben. Sie fühlen sich hilflos, verloren, entwurzelt. Was sie brauchen, ist Zuwendung, Orientierung, Schutzraum und auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit und Anerkennung.

Außerdem kommen viele Kinder aus Lerntraditionen, die vornehmlich Frontalunterricht pflegen. Sie sind mit offenen Unterrichtsformen nicht nur überfordert, sondern lehnen sie teilweise sogar ab, weil sie und ihre Eltern diese nicht als echten Unterricht anerkennen.
In dieser Situation ist für alle Beteiligten (auch für die Lehrkraft) das einzig Richtige, erst einmal Druck herauszunehmen und als Gruppe zusammenzufinden: „In dieser Gruppe sind wir zu Hause, uns verbindet unsere Situation und gemeinsam können wir vielleicht auch einmal darüber lachen.“

Eine Möglichkeit, Druck herauszunehmen und die Gruppe zusammenführen, ist ein gemeinsamer Foto-Spaziergang durch die Schule, nachdem Steckbriefe halb geschrieben und halb gemalt, Namensspiele gespielt und die Stundenpläne verstanden wurden. Schenken Sie den Kindern vorher ein kleines, leeres DIN A5-Heft auf dem steht: „Meine Schule“. Erklären Sie, dass es ein Fotoalbum wird (wenn möglich auch, dass die Kinder zu jedem Foto etwas schreiben werden). Halten Sie bei dem Spaziergang die Kamera auf alles, auf das die Kinder zeigen (ggf. auch auf sie selbst, wenn sie es so möchten). Auf diese Weise kann es ein sehr heiterer Spaziergang werden. Achten Sie darauf, dass alle wichtigen Orte abgelichtet werden. Schenken Sie dann jedem Kind bis zu 10 Fotos mit verschiedenen Orten des Schulgeländes. Gemeinsam werden diese auf jeder zweiten linken Seite des Heftes eingeklebt. Im kommenden Halbjahr können die Kinder nach und nach Texte gemeinsam und als Hausaufgabe verfassen über den Eingang, die Sporthalle, den Schulhof und was man dort jeweils tut. Nach Überarbeitung und Freigabe übertragen sie diese ordentlich in ihr Album: Ein motivierender Anlass für Wortschatzarbeit und für das so wichtige Schreiben und Überarbeiten von Texten, denn auch ältere Kinder zeigen das Album gerne Freunden und Verwandten.

Nach einem lockeren Auftakt wie diesem sollte jeder Tag zum Aufwärmen mit einem fröhlichen oder besinnlichen Ritual beginnen. In der Grundschule können Sie Begrüßungslieder und Bewegungsspiele spielen (Musik, Kunst und szenisches Spiel sind generell wichtige Motivatoren und Gedächtnisanker, die auch sozial zusammenführen). Aber auch in älteren Gruppen sind Rituale wichtig, um anzukommen und um Sicherheit zu gewinnen. Der Erzählstein und das kurze Vorlesen einer Fortsetzungsgeschichte funktionieren auch hier noch. Wer es eilig hat, kann in dieser Phase auch bereits Wortschatz aus vergangenen Stunden wiederholen lassen, z. B. bei Kettenspielen nach dem Prinzip des Kofferpackens („Ich kaufe ein und ich nehme…“, „Ich öffne den Kleiderschrank und nehme…“). Eine weitere Idee wäre, im Regelunterricht Ausdrücke sammeln zu lassen, die zu Beginn geklärt und einer Wortschatzkiste (Muster siehe Abbildung) für die verschiedenen Fächer zugeführt werden („Was habt ihr heute für unsere Wortschatzkiste mitgebracht?“).

Wortschatzkiste

Generell ist eine kleine (Ideen-)Sammlung an Lernspielen wie z. B. Bingo, Tabu, Kofferpacken, Pantomime, Wer bin ich, Montagsmaler … für zwischendurch immer nützlich. Sie lockern nicht nur auf: Hier werden unbewusst und multisensorisch Sprachmittel vielfach verknüpft und damit gut im mentalen Lexikon verankert.
Außerdem sind unterrichtsorganisierende Utensilien, die nonverbal Orientierung bieten oder Feedback geben, in DaZ-Lerngruppen besonders wertvoll. Dazu gehören z. B. Sand- oder Stoppuhren, Bilderkärtchen für die Gruppeneinteilung und Stempel.

Für ihre individuellen Fragen und Mitteilungen brauchen die Kinder unbedingt ein Wörterbuch, bei Überforderung ggf. ein Bildwörterbuch. Der Gefahr, dass sie es übermäßig nutzen, kann durch klare Regeln begegnet werden (z. B. wenn das Wörterbuch nur in der Erarbeitungsphase des Unterrichts genutzt werden darf oder nur, wenn ein grünes Schild hängt).
Nicht zuletzt ist emotional natürlich bedeutsam, dass die Kinder und Jugendlichen weniger kritisiert als vielmehr ermutigt, gelobt und in ihren Kompetenzen  gesehen werden (z. B. Familiensprachen, musisch-künstlerische oder sportliche Fähigkeiten). Um die Sprechbereitschaft zu fördern, sollte beim Sprechen nicht die Fehlerkorrektur im Vordergrund stehen (nur behutsames korrektives Feedback ist erlaubt) und die Schülerinnen und Schüler sollten die Inhalte ihrer Äußerungen auch im gelenkten Sprechen möglichst weitgehend selbst bestimmen (auch wenn dies nicht immer möglich ist).

Innerhalb eines solchen festen stützenden Rahmens und mithilfe von Materialien und Aufgaben, die Transparenz über Lernziele herstellen und klare Anweisungen geben, können die Schülerinnen und Schüler nach den Phasen 1. des Aktivierens und Strukturierens von Vorwissen sowie 2. der Rezeption eines vorbildlichen Textes zum gemeinsamen Einstieg in eine neue Unterrichtseinheit dann auch Stationenlernen oder Lernszenarien bewältigen.
Auf jeden Fall ist wichtig: Auch wenn vielen Kinder erst einmal viel Zeit gegeben werden muss, um Sprache ausschließlich rezeptiv zu erfassen, so sollte der Sprachanteil der Lerngruppe insgesamt doch in jeder Stunde möglichst hoch sein. Am Ende jeder Unterrichtseinheit sollte eine Präsentation oder jedenfalls ein Produkt stehen, in dem jedes Kind anfangs vielleicht mündlich (und da zunächst eher dialogisch), bald aber möglichst auch schriftlich seinen Lernzielen entsprechend gehandelt hat.

Für Sie gilt zu Ihrer Entlastung zudem: Die FachkollegInnen müssen verstehen, dass DaZ-Förderunterricht allein nicht zur erfolgreichen Teilnahme am Fachunterricht befähigen kann, sondern sie ebenfalls in der Verantwortung stehen, indem sie grundsätzlich sprachbildend unterrichten. Eine SchiLF zum Thema „sprachbildender Fachunterricht“ lässt sich sicherlich durch die Schulleitung organisieren. Weiterhin kann es helfen, sich mit Lehrkräften aus Nachbarschulen zu vernetzen und Unterrichtseinheiten bzw. Arbeitsmaterialien auszutauschen.

Das Schöne ist: Von DaZ-Lerngruppen kommt im Laufe der Zeit viel zurück. Nicht nur werden Sie schnell Lernfortschritte sehen, sondern viele Kinder sind Ihnen im Nachhinein für lange Zeit dankbar, dass Sie ihnen als erste Bezugsperson den Einstieg in das neue Leben erleichtert haben.

von Dr. Ina Baumann

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