16. März 2023
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„Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, / Der Menschheit Krone zu erringen?“ (V. 1802 f.)
Warum es sich lohnt, Goethes „Faust“ – dem „ewigen“ Klassiker der deutschen Literatur – im Deutschunterricht mit heutigem Blick zu begegnen.

Faust und ich

Du bist Faust – behauptete die große Ausstellung der Kunsthalle München im Jahr 2018. Faust als pädagogisches Projekt von heute kommt nicht umhin, nach Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der literarischen Figur und den Schülerinnen und Schülern zu fragen. Dabei bietet sich der frustrierte und zum Suizid bereite Gelehrte, den Goethe zu Weltruhm gebracht hat, nicht gerade als Vorbild an.

„Bin ich ein Gott?“ (V. 439) fragt Faust, und es ist einen Augenblick lang keine rhetorische Frage auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner Midlifecrisis. Weil er keine Antwort darauf findet, wendet er sich kurzerhand an den Erdgeist. Der weist ihn jedoch barsch zurück: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir!“ (V. 512 f.). Glücklicherweise, denn Fausts Egomanie wird Leserinnen und Lesern heute ohnehin übermenschlich erscheinen. Oder etwa nicht?

Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit

Einfach die Seite wechseln, die Fahne nach dem Wind drehen, wenn es mit den Göttern nicht klappt, und mit dem Teufel einen Pakt eingehen. Das ist literarisch eine durchaus spannungsreiche Lösung. Und sie dürfte den Schülerinnen und Schülern in ihrer lebensweltlichen Sicht nicht völlig abwegig sein. Meint dies doch, den eigenen Vorteil zu suchen. Wir sind als moderne Individuen autonom, weitgehend auf uns selbst gestellt und für unser Tun verantwortlich. Das lehrt auch die moderne Pädagogik. Sie will zur Selbstbestimmung erziehen und schlägt die ständige Optimierung und Selbstregulation vor. Davon haben sicher auch die Schülerinnen und Schüler inzwischen gehört.

Moral und Mut

Allzu weit sind wir so wohl nicht entfernt vom ewig strebenden Faust (vgl. V. 1741). Zu wünschen ist indes, dass ein Pakt zwischen Menschen gesucht und auf die Hilfe des Teufels verzichtet wird. Wenngleich, das muss zur Ehrenrettung von Faust gesagt werden, er den Beelzebub für sich nutzbar macht und ihn durchaus beherrscht. Das macht die Mitwirkung des Teufels jedoch nicht zu einem humanen Geschehen. Denn was die beiden der jungen Margarete antun, übersteigt alle moralischen und rechtlichen Grenzen. Dabei geht es nicht um Verführung. Margarete ist selbstbewusst genug, ihre Differenz zu Faust und zu ihrem liebesfeindlichen gesellschaftlichen Umfeld zu sehen und sich dennoch für die Liebe zu entscheiden. Sie handelt äußerst mutig und gegenwärtig. Daran können Schülerinnen und Schüler sich immer noch abarbeiten.

Verfehlung und Verantwortung

Soweit die Sache mit der Liebe in Faust. Selbstbestimmung verleitet darüber hinaus zu weiteren folgenschweren Entgrenzungen, die eine lehrreiche Lektüre des Dramas unbedingt empfehlenswert machen. Da wird von verantwortungslosem Handeln in der Wissenschaft gesprochen (vgl. die Szene „Vor dem Tor“), von Verjüngung/Jugendkult und ewiger Attraktivität („Hexenküche“), von ausgrenzender bürgerlicher Moral („Nacht“) und in Faust II kommen politische und ökonomische Schandtaten dazu.

Nein. Faust bietet Schülerinnen und Schülern weiß Gott kein Vorbild auf der Suche nach einem erfüllten Leben. Verkörpert er doch nur die negativen Folgen dessen, was moderne Autonomie problematisch und gefährlich macht. Es gilt, sich abzugrenzen, zu lernen, Irrtümer einzugestehen, Verantwortung zu übernehmen und Läuterung zu zeigen: Die Katharsis als aristotelische Diktion annehmen und nicht Faust sein wollen. Ein Sinneswandel, weg vom unkontrollierten Streben, könnte vielleicht sogar den Klimawandel stoppen?

Form und Fabulierlust

Zu guter Letzt darf sich eine Werbung für das Faust-Drama nicht in thematischen Anregungen erschöpfen. In den Unterricht zu Faust gehören unbedingt die ästhetischen Reize des Textes: Eine unerschöpfliche Vielfalt poetischer Delikatessen („Ihr Mann ist tot und lässt sie grüßen“, V. 2916 / „Ich bin zu alt, um nur zu spielen“, V. 1546). Ebenso reizvoll ist es, die situationsspezifischen Redeformen und die eigentümliche Vermischung von Komödie und Tragödie zu betrachten.

Schließlich gehören zum genussvollen Lernen an Faust auch Übungen der Rezitation.

Link-Tipps

Für Sie zum kostenlosen Download

Sie erhalten als Downloadgeschenk:

S. 168:
▪ Das Religionsgespräch analysieren und interpretieren
▪ Ausdrucksformen bürgerlicher Moral untersuchen

S. 171:
▪ Margaretes innere Befreiung und Erlösung entschlüsseln

S. 182–184:
▪ Kleine Versschule

Deutsch kompetent Kurslektüre Goethe: Faust

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